von Jürgen Vogt
In Argentinien steht seit zwei Wochen ein Orthodoxer an der Spitze des jüdischen Gemeindezentrums und Hilfswerks AMIA. Mit Guillermo Borger hat die Asociación Mutual Israelita Argentina erstmals in ihrer 114-jährigen Geschichte einen Kandidaten des orthodoxen Flügels in das Präsidentenamt gewählt.
Borger (59) stammt aus einer deutsch-jüdischen Familie von Holocaustüberlebenden. Für reichlich Wirbel sorgte der Neue noch vor seinem Amtsantritt. In einem Interview Anfang Juni hatten ihn Journalisten der größten argentinischen Tageszeitung »Clarín« gefragt, was er ändern wolle. Borgers Antwort: »Wir werden die Rolle der AMIA als Repräsentantin der genuinen Juden stärken.« Als das Blatt nachfragte, was für ihn denn ein genuiner Jude sei, sagte er: »Ein Leben zu führen, das in allem darauf basiert, was die Tora vorschreibt.«
Ein Sturm der Entrüstung fegte durch die jüdische Gemeinschaft. Viele fühlten sich durch die Äußerungen ausgeschlossen. Borger ruderte zurück und bestritt die Aussagen. Doch »Clarín«-Chefredakteur Julio Blank hielt dagegen: »Wir haben gedruckt, was er gesagt hat.«
Borgers Sprecher Pablo Reisman sprang in die Bresche. Die Aussage sei unglücklich gewesen, aber auch nicht so erschreckend, dass man das Ende der Gemeinschaft befürchten müsse. Man solle die »Kleinlichkeiten« beiseite lassen und die Diskussion nicht nach außen tragen, sondern sie innerhalb der Gemeinde führen.
Jenseits der hitzigen Debatte darüber, wer und was ein genuiner Jude sei, analysiert der Psychologe und Schriftsteller Marcelo Aptekmann, wie die gegenwärtige Gemengelage überhaupt entstehen konnte. Seit 60 Jahren, so Aptekmann, schrumpfe die jüdische Gemeinde. Von einstmals 500.000 leben heute noch knapp 200.000 Menschen in Argentinien, die sich der Gemeinde zugehörig fühlen. »Das Panorama einer wirtschaftlichen Entwurzelung führt uns zur gegenwärtigen kulturellen und institutionellen Misere der jüdischen Gemeinschaft«, so Aptekmann. Dies erkläre teilweise, warum in der AMIA eine religiöse Bewegung mit einer provokanten Botschaft gewonnen habe, die durch den ultrareligiösen Sektor des Judentums der USA finanziell unterstützt worden sei.
Viele, die in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts nach Argentinien kamen, sind weitergezogen. Militärdiktaturen und ökonomische Krisen haben ihren Teil dazu beigetragen, dass sich in dem zudem sehr katholisch geprägten Land keine zukunftsweisende Gemeinschaft entwickelte. Die Angst und die Unsicherheit, die die Bombenanschläge auf die israelische Botschaft 1992 und zwei Jahre später auf die AMIA auslösten, brachten einen neuen Schub der Auswanderung. »Die Lücken in den jüdischen Institutionen wurden von den Orthodoxen besetzt«, resümiert Aptekmann.
In seiner Antrittsrede am 12. Juni machte der neue Präsident Guillermo Borger deutlich, dass er sich missverstanden fühlte: »Die AMIA ist und wird die Vertretung aller Juden sein, ohne Ausschluss und im Geist der Verständigung.« Die erste Nagelprobe, ob seine Botschaft angekommen ist, wird die jährliche Gedenkfeier anlässlich des Bombenanschlags am 18. Juli 1994 sein. Der Tag, an dem 85 Menschen getötet wurden, hatte in den vergangenen Jahren wegen der Differenzen innerhalb der AMIA, der politischen Dachorganisation DAIA und den Vereinigungen der Angehörigen der Opfer zu unterschiedlichen Gedenkveranstaltungen geführt. Borgers Ziel ist, dass sich die verschiedenen Gruppen und Strömungen der jüdischen Gemeinschaft zu einem »pluralistischen und doch zusammenschließenden« Akt zusammenfinden.