zuwanderer

»Deutschland war wie ein anderer Planet«

von Tobias Kühn

Kleiner geht’s nicht. Winzig ist das knallgelb angestrichene Büro im Kölner Stadtteil Neuehrenfeld, in dem Viktor Ostrowski sitzt. In seinem dunklen Anzug sieht der kräftig gebaute Mann aus wie ein Geschäftsmann. Sein schwarzes Haar ist millimeterkurz geschnitten. Der Schreibtisch vor ihm ist aufgeräumt, beinahe leer. Nur ein Notebook steht darauf, zwei rote Mappen, ein Kugelschreiber. Im Wandregal lehnt ein Bilderrahmen mit Fotos von Lokalpolitikern, daneben liegt eine dunkelblaue Kippa mit der Aufschrift »Besuch Papst Benedikt XVI. – Synagoge Köln, 19. August 2005«. Er sei dabeigewesen, sagt Viktor Ostrowski, und etwas Stolz schwingt mit. Die Kölner Synagogen-Gemeinde hatte ihn eingeladen. Denn der 34jährige leitet das Kultur- und Integrationszentrum Phönix, eine Beratungsstelle für russischsprachige Zuwanderer. Er selbst hat sie aufgebaut. »Weil ich anderen ersparen wollte, was ich erlebt habe.«
Viktor Ostrowski holt tief Luft und erhebt sich von seinem drehbaren Bürosessel. Er ist ein breiter, hochgewachsener Mann, seine kräftige Statur scheint nicht zu seinem Jungengesicht zu passen. Er zündet sich eine Zigarette an, nimmt einen tiefen Zug, dreht sich zum geöffneten Fenster und bläst den Rauch hinaus in den regnerischen Nachmittag.
»Wissen Sie«, fängt er an zu erzählen, »als ich 1991 auf dem Dortmunder Hauptbahnhof aus dem Schlafwagen stieg, war ich das erste Mal im Ausland.« Er stockt, nimmt einen weiteren Zug von seiner Zigarette. Leicht gekrümmt steht er am Fenster und schaut hinaus in den Regen. »Ich war damals 21 und sprach nur Russisch. Um von Dortmund zum Aufnahmelager nach Unna-Massen zu kommen, mußte ich zweimal umsteigen. Sie werden lachen, aber das war eine Herausforderung für mich.« Er schüttelt den Kopf, als wundere er sich über sich selbst. Geradezu abenteuerlich sei es gewesen, sagt er ernst. Man sieht ihn auf dem Bahnsteig stehen, diesen stattlichen jungen Mann. Niemand der Vorbeigehenden ahnt, daß so einer sich klein und hilflos fühlt. Eine halbe Stunde irrt er umher, dann trifft er eine Polin, die ihm den Weg nach Unna erklärt – in einer Mischung aus Russisch und Polnisch.
Nach einigen Tagen im Aufnahmelager und zwei Monaten in Bochum zieht Viktor Ostrowski nach Köln. Geboren und aufgewachsen in Sankt Petersburg, möchte er auch in Deutschland lieber in einer Großstadt leben. Doch das Immigrantendasein fällt ihm schwer, er kommt mit dem deutschen Alltag nicht zurecht. »Was hier zählt, galt dort nichts und umgekehrt. Deutschland war wie ein anderer Planet.« Er habe die Mentalität nicht verstanden, sagt er. »In Rußland hat man viel schneller herzlichen Umgang mit anderen Menschen. Hier in Deutschland muß man erst eine längere Zeit verbringen, damit ein engeres Verhältnis entsteht.« Er habe versucht, mit den Werten, die in Rußland gelten, sich hier zu integrieren. Das habe nicht funktioniert. Oft war er verzweifelt. Gern hätte er in der Zeitung die Telefonnummer einer Anlaufstelle für Immigranten gelesen, wo er sich hätte Hilfe holen können. Seine Stimme wird ganz leise. Er habe damals viele Fehler gemacht, sagt er. Und es gab große familiäre Sorgen. Viktor Ostrowski spricht nicht gern über diese Zeit, das merkt man ihm an.
Zurück nach Rußland wollte er aber auf keinen Fall. Beim Militär hatte er die Sowjetunion von einer Seite kennengelernt, die ihm das Gefühl gab, nicht in dieses Land zu gehören und mit den Menschen dort nur wenig gemein zu haben. »›Jude‹ ist ein Schimpfwort in Rußland. Wer jemanden beleidigen möchte, kann auch ›Jude‹ zu ihm sagen.« Viktor Ostrowski lacht. »Der Antisemitismus gehört in Rußland zur guten Manier. Das ist nichts Schlechtes dort, das gehört einfach dazu.« Fast zynisch sagt er dies und mit jenem russischen Sinn für Humor, der deutsche Zuhörer irritieren kann.
Aus Angst hatten ihm seine Eltern lange nicht erzählt, daß sie Juden sind. Als er mit sechs Jahren zum ersten Mal Judenwitze hört, fragt er seine Mutter, was denn Juden seien. »Es war ein Schock, als ich erfuhr, daß all diese schlimmen Geschichten mich betrafen.« Später erlebt er, wie in jedem amtlichen Dokument und in jeder Liste bei ihm als Nationalität »Ewrej«, Jude, eingetragen wird: in der Schule im Klassenbuch, später im Paß und im Wehrdienstausweis. »Ich versuchte, immer auszuweichen, wenn man auf Juden zu sprechen kam. Es war ein Leben im Versteck.« Die Politik in Rußland sei eine große Lüge, sagt Viktor Ostrowski voller Abscheu. »Wenn man etwas erreichen möchte, muß man Gesetze übertreten, muß Verbrecher sein. Menschliches Leben zählt nichts.« Und doch liebt er dieses Land, fährt immer wieder hin, besucht alte Freunde und die Verwandten seiner Frau. »Ich war im Sommer in Rußland im Urlaub. Man könnte auch sagen, ich war zu Hause.« Er macht eine bedeutungsvolle Pause. Dann sagt er: »In Rußland ist man echt. Das vermisse ich hier.« Doch Viktors Angst vor Rußlands dunkler Seite ist größer als sein Heimweh. Deshalb lebt er in Deutschland. Anders als dort gebe es hier Gerechtigkeit. »Zwar wenig, aber es gibt sie.«
Als Viktor Ostrowski ausreichend Deutsch kann, schreibt er sich an der Kölner Uni ein und studiert Wirtschaftspädagogik. Neben dem Studium probiert er verschiedene Dinge aus. So arbeitet er einige Monate in einer Werbeagentur und später für eine bekannte amerikanische Band, die gern in Rußland auftreten möchte. Dabei lernt er sein Handwerk: das Promoten – eine Idee beliebt zu machen.
Und weil er das Gefühl nicht los wird, wie viele andere Immigranten in Deutschland nicht erwünscht zu sein, schlägt er seinen Freunden eines Tages vor, sich zusammenzutun. »Man will uns in dieser Gesellschaft nicht. Aber es geht um unser Leben«, sagt er zu ihnen. Sein Plan ist es, Menschen zu helfen und davon zu leben. Die Freunde halten ihn jedoch für verrückt. Sie glauben nicht an den Erfolg seiner, wie er es nennt, Geschäftsidee. Wie will man anderen helfen, wenn man selbst keinen Lebensunterhalt hat, höhnen sie. Die Freundschaften zerbrechen, die einzige, die zu ihm hält, ist seine Frau Asja, die 1998 im Rahmen der Familienzusammenführung hochschwanger nach Deutschland gekommen war.
Heute redet Viktor Ostrowski wie ein Geschäftsmann. Er sagt Sätze wie: »Die Russen in Deutschland sind das Produkt, das ich vermarkte.« Mehr als 40.000 russischsprachige Menschen leben in Köln. Viele von ihnen sprechen kaum Deutsch, sind schlecht integriert. Viktor Ostrowski ist überzeugt, daß die russische Zuwanderung viele Vorteile mit sich bringt und der deutschen Gesellschaft eines Tages zugute kommen wird.
Er zündet sich eine neue Zigarette an. »Wir sind hierzulande die größte Gemeinschaft nach den Türken. Wir haben ein großes Potential«, schwärmt er. Doch weil die Zuwanderer dieses Potential ohne Hilfe nicht entfalten können, hat Ostrowski das Kultur- und Integrationszentrum gegründet. Der Name Phönix komme von ihm, betont er. Wie Phönix aus der Asche sei er nach allen Niederlagen in der neuen Welt immer wieder aufgestanden.
Er hält kurz inne und atmet tief durch. »Ich bin dazu verdammt, Fehler zu machen und aus ihnen zu lernen«, sagt er. Gemeinsam mit 24 Mitarbeitern – die meisten sind sogenannte Ein-Euro-Jobber – vermittelt er heute Deutschkurse, Praktika, berät über Bildungsmöglichkeiten, hilft bei der Arbeitssuche und bei der Anerkennung schulischer und beruflicher Abschlüsse aus den Herkunftsländern. »Wir haben eine Brücke gebaut, über die die russischen Zuwanderer gehen können, um in der deutschen Gesellschaft anzukommen.«
Vor einem Jahr, und darauf ist Viktor Ostrowski mächtig stolz, haben ihm die Kölner Stadtverwaltung und die Arbeitsagentur den offiziellen Auftrag erteilt, russischsprachigen Arbeitslosen zu helfen. Er hat alle Hände voll zu tun. Sein Plan ist aufgegangen: Er hilft anderen und lebt davon.

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