Die Diskussion über die Äußerungen des früheren Berliner Finanzsenators und jetzigen Bundesbankers, Thilo Sarrazin, hat sich zu einer heftigen innerjüdischen Debatte entwickelt. Nachdem Stephan J. Kramer, der Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, Sarrazin angegriffen hatte, er stünde in einer Reihe mit Hitler, Goebbels und Göring – ein Vergleich, den er mittlerweile zurückzog – hagelte es heftige Reaktionen.
entgleisung »Hat der Mann noch alle Tassen im Schrank?«, griff der Münchner Historiker Michael Wolffsohn im Berliner Tagesspiegel Kramer an. »Weiß er nicht, dass sich Juden nicht mehr in bestimmte Bezirke deutscher Städte trauen können, weil und wenn sie, zum Beispiel mit einer Kippa-Kopfbedeckung, als Juden zu erkennen sind?«, fragte Wolffsohn. »Diese Gefahr droht Juden dort nicht von Anhängern Sarrazins, sondern von denjenigen, über die Sarrazin sprach.« Wolffsohn schreckte nicht davor zurück zu fragen, ob »der Konvertit Kramer uns gebo- renen ›Alt-Juden‹ beweisen will, dass er der bessere Jude ist?«
Ernst Cramer, Holocaust-Überlebender und Vorstandsvorsitzender der Axel-Springer-Stiftung, kritisierte Kramer, den er als »sonst so besonnen« bezeichnet, ebenfalls: Sarrazin in die Nähe von Hitler zu rücken, sei »einfach nicht richtig. Denn gegenüber dem, was Hitler und seine Handlanger hauptsächlich über Juden, aber auch über Polen und andere gesagt haben, sind die schlimmsten Entgleisungen Sarrazins noch goldene Worte.« Der Publizist Henryk M. Broder bescheinigte Kramer »nackten Aktionismus, gepaart mit galoppierendem Realitätsverlust« und forderte eine Entschuldigung.
»Rassistisch« Am Montag drückte Kramer im Tagesspiegel sein Bedauern über den Nazivergleich aus, der »überzogen« gewesen sei. »Die Parallele war auch der Sache selbst nicht dienlich, droht doch der Wirbel um den Vergleich, Sarrazin im Kampf um seinen schmählich verlorenen Ruf zu helfen.« Sarrazins Äußerungen, darauf beharrt Kramer, seien rassistisch und zielten auf niedrige Instinkte.
Die strittigen Aussagen Sarrazins, auf die sich die Diskutanten beziehen, stammen aus einem Interview des SPD-Politikers mit dem Literatur-Magazin Lettre International. Unter anderem heißt es da: »Die Türken erobern Deutschland genauso, wie die Kosovaren das Kosovo erobert haben: durch eine höhere Geburtenrate.« Türkische und arabische Einwanderer in Deutschland hätten »keine produktive Funktion, außer für den Ost- und Gemüsehandel«. Er erkenne diese Leute nicht an, da sie »ständig neue kleine Kopftuchmädchen« produzierten. Sein Befund gelte für 70 Prozent der türkischen und 90 Prozent der arabischen Bevölkerung Berlins.
Sarrazins Äußerungen, so Kramer, seien rassistisch, »denn nur als Rassist kann man ›Türken und Araber‹ verächtlich in den Berliner Gemüsehandel verweisen«. Wenn »ganze Menschengruppen als Unterschicht definiert und ihr Recht auf Fortpflanzung infrage« gestellt würde, sei das nichts anderes als »Menschenhass«.
Unterstützung erhält Kramer von Sergey Lagodinsky, Sprecher des Arbeitskreises Jüdischer Sozialdemokraten. »Es ist schon verwunderlich, wie man bei Angriffen auf den Generalsekretär des Zentralrats bemüht ist, den Bock zum Gärtner zu machen«, sagte Lagodinsky der Jüdischen Allgemeinen. »Stephan Kramer hat gemacht, was ich mir von vielen weiteren Gemeindefunktionären gewünscht hätte. Er hat die Äußerungen Sarrazins als das bezeichnet, was sie sind: rassistische und sozialdarwinistische Verkürzungen.« Lagodinsky stellt Kramer in die »beste Tradition des Zentralrats« und erinnert an den verstorbenen Präsidenten Ignatz Bubis. Auch die Berliner CDU-Politikerin Barbara John wirft Sarrazin Rassismus vor: »Was er sagt, ist abwertend, niedermachend, destruktiv und ausgrenzend«, sagte die langjährige Auslän- derbeauftragte der Frankfurter Rundschau.
Berlins Integrationsbeauftragter Günter Piening erklärte, Sarrazins Äußerungen seien »schlichtweg rassistisch, und die Staatsanwaltschaft hat zu Recht die ersten Schritte zur Eröffnung eines Verfahrens wegen Volksverhetzung eingeleitet«. Piening weiter: »Gerade in den Kreisen, die das Kosmopolitische so sehr schätzen, sind ›ironisch gemeinte‹ abfällige Äußerungen à la Sarrazin hoffähig geworden.«
Von jüdischer Seite bekommt Sarrazin nicht nur Kritik, sondern auch Zuspruch. »Seien wir doch froh über einen, der Sinnvolles und Richtiges in provokanter Form ausspricht«, lobte der Publizist Henryk M. Broder, und der Schriftsteller Ralph Giordano sagte: »Sarrazin weist zu Recht auf die haarsträubenden Zustände in den Parallelgesellschaften hin. Eingebrockt haben uns diese Verhältnisse Multikulti-Illusionisten, professionelle Gutmenschen, Umarmer vom Dienst, Sozialromantiker und Beschwichtigungsapostel. Denen darf man nicht nachgeben und sich mundtot machen lassen.« In einem Interview schränkte Giordano aber ein, Sarrazin hätte einige seiner »zugespitzten und aggressiven« Äußerungen »besser unterlassen« sollen.
meinungsbild Derweil ergab eine im Auftrag der Bild am Sonntag erstellte Meinungsumfrage des Emnid-Instituts, das 51 Prozent der Deutschen Sarrazins Meinung zustimmten, arabische und türkische Einwanderer seien zu einem großen Teil nicht integrationswillig oder -fähig. 39 Prozent halten diese Aussage für falsch.
Die Bundesbank hat nun Vorstandsmitglied Sarrazin entmachtet. Der 64-Jährige ist künftig nicht mehr für den wichtigen Bereich Bargeld zuständig, sondern soll sich um Informationstechnologie und Risiko-Controlling kümmern. Das wurde auf einer Vorstandssitzung am Dienstag in Frankfurt beschlossen. Bundesbank-Chef Axel Weber hatte Sarrazin bereits den Rücktritt nahegelegt und gesagt, »dass wir uns als Bundesbank ganz eindeutig von den Äußerungen distanzieren«.