von Gabriele Lesser
Gab es in Breslau, Kattowitz oder Oppeln jüdische Schtetl? Trugen Juden in Schlesien, Pommern und Ostpreußen breitkrempige Hüte und schwarze Kaftane? Polnische Schüler müssen genau das annehmen. Denn nicht nur in den polnischen Medien, auch in Schulbüchern werden Juden als höchst exotische Wesen dargestellt. Sie tragen lange Bärte und Schläfenlocken, breitkrempige Hüte und schwarze Kaftane.
Dass Breslau vor dem Zweiten Weltkrieg eine Hochburg des deutschen Reformjudentums war, Lublin hingegen das geistige Zentrum des ostpolnischen Chassidismus, wird nur selten thematisiert. Wie sehr die aus dem Kommunismus stammende Politik der Gleichmacherei bis heute das Denken in Polen prägt, zeigt das neue Museum für die Geschichte der Juden Polens. Seine erste Publikation, die kostenlos an Schulen verteilt wird, erscheint im Rahmen eines Projekts, das geradezu absurd klingt: »Virtuelle Schtetl in Niederschlesien, dem Oppelner und Lebuser Land«. Schtetl hat es dort seit dem Mittelalter keine mehr gegeben.
Schülerinnen und Schüler der Janusz- Korczak-Mittelschule im niederschlesischen Walbrzych, dem früheren Waldenburg, beschäftigen sich seit Jahren mit jüdischen Themen. »Wir erziehen unsere Kinder nach den Lehren Korczaks. Für uns Lehrer ist er ein großes Vorbild«, erklärt Schuldirektorin Ewa Gratzke. Sie holt einige Jugendliche und den Lehrer der Geschichts-AG aus dem Unterricht. »Korczak hätte das Warschauer Ghetto verlassen können«, erläutert sie. »Aber er ließ seine Waisenkinder nicht allein. In Treblinka starb er zusammen mit ihnen.« Die Schüler nicken. Sie kennen die Geschichte des berühmten Pädagogen.
Doch dann müssen sie passen. Von deutschen Juden haben sie noch nicht gehört. Der 15-jährige Marcin zuckt mit den Schultern. »Ich habe mir die Inschriften auf den Grabsteinen nie so genau angesehen.« Auch die etwas jüngere Justyna staunt: »Deutsche Juden? Hier bei uns?« Der Lehrer greift ein: »Juden sind vor allem Menschen. Ob auf dem Friedhof deutsche oder polnische Juden liegen, das macht für uns keinen Unterschied. Es kümmert sich niemand um die Gräber. Also machen wir das.« Man wolle demnächst einen Film über Schewach Weiss drehen, den ehemaligen Knesset-Vorsitzenden und früheren Botschafter Israels in Polen. »Er ist in der Ukraine geboren. Polen, die hier leben, haben ihn ge- rettet«, erklärt Nikola. Warum Polen aus der Ukraine heute in Niederschlesien leben, wissen die Jugendlichen nicht.
Ignacy Einhorn, Arzt und ehemaliger Vorsitzender der jüdischen Gemeinde in Wroclaw (Breslau), kennt die Schule und ihr Engagement. »Es wundert mich nicht, dass die Kinder von der Vorkriegsgeschichte nichts wissen. Jahrzehntelang haben die polnischen Kommunisten alles darangesetzt, die deutschen Spuren im heutigen Polen zu vernichten. Das ist ihnen weitgehend gelungen.« Ludwik Hoffman, der Gründer der Jüdischen Sozial-Kulturellen Gesellschaft in Walbrzych, ist trotzdem froh, dass die Jugendlichen beim Aufräumen des Friedhofs helfen. »Die Erinnerung
an die deutschen Juden in Waldenburg, ist längst gestorben«, sagt er. »In wenigen Jahren wird uns polnische Juden im heutigen Walbrzych das gleiche Schicksal treffen. Wir sterben langsam aus. Die Gemeinde gibt es schon nicht mehr. Später wird der Friedhof verwildern und jede Erinnerung an uns erlöschen.«
Hoffman ist oft in Deutschland, aber dort habe sich nie jemand für die deutsch-jüdische Kultur in Niederschlesien interessiert, klagt er. »Die Vertriebenen sind ja alle Arier«, sagt er und lacht bitter. »Die interessieren sich nicht für Juden.«
In Klodzko, dem früheren Glatz, wurden einige Grabmäler auf dem jüdischen Friedhof restauriert. »Der Friedhof ist die letzte Spur, die von den deutschen Juden geblieben ist«, erklärt Ignacy Einhorn. »Wir konnten junge Leute gewinnen. Sie haben mit großem Engagement den Friedhof wiederhergerichtet.« Finanziert und unterstützt haben das Projekt die Stiftung zum Schutz des jüdischen Erbes in Warschau und die deutsch-polnische Stiftung Kreisau in Niederschlesien. »Wir führen hier einjährige Projekte für internationale Freiwilligengruppen durch«, erläutert Annemarie Franke, die Direktorin der Stiftung. »Nach der Teilrestaurierung des jüdischen Friedhofs in Klodzko sind einige der jungen Leute am Ball geblieben und bauen heute die deutsch-polnisch-jüdischen Beziehungen aus.« Das sei ein großer Erfolg. Aber die Stiftung Kreisau sei auf ihre Geldgeber angewiesen. Das nächste Freiwilligenprojekt werde sich daher mit den Parks und Gartenanlagen in Niederschlesien beschäftigen. »So wird es leider keine Kontinuität geben«, bedauert Franke.
»Das genau ist der Vorteil der Kulturgemeinschaft Borussia in Olsztyn, dem früheren Allenstein im Ermland«, freut sich Monika Krawczyk, die Direktorin der Stiftung zum Schutz des jüdischen Erbes. »Die Kontinuität!« Die jungen Leute in Nordpolen engagierten sich nun schon seit Jahren für das Mendelsohn-Haus im früheren Allenstein. »Wir haben uns von der Ernsthaftigkeit ihrer Bemühungen überzeugt und einen Pachtvertrag mit ihnen geschlossen«, erzählt Krawczyk. So hätten sie dafür gesorgt, dass der jüdische Friedhof heute nicht mehr als Hundeklo benutzt werde, wie es über Jahrzehnte üblich war. Das Bet Tahara, das Haus der Reinigung, in dem die Verstorbenen gewaschen wurden, sei fast fertig restauriert.
Die heutigen Allensteiner seien inzwischen stolz auf dieses Haus, das der Architekt Erich Mendelsohn (1887-1953) in seiner Geburtsstadt gebaut hat. »Die Fried- hofshalle mit der Kuppel, die im Stil der Künstlergruppe des Blauen Reiters ausgemalt wurde, ist das Gesellenstück des berühmten Architekten«, sagt Krawczyk. Lange hätten die zugezogenen Polen nicht gewusst, dass der Erbauer des Potsdamer Einsteinturms, der Hebräischen Universität in Jerusalem und vieler weiterer Bauten auf der ganzen Welt in Allenstein geboren wurde. »Heute sind sie stolz auf ihn«, betont Krawczyk. Auch das sei ein Verdienst der jungen Leute in der Kulturgemeinschaft Borussia, die die deutsch-jüdische Geschichte ihres Heimatortes wiederentdecken und popularisieren.
Meist arbeite die Stiftung zum Schutz des jüdischen Erbes aber mit Schulen zusammen. »Mit unserem Programm ›Entde- cken wir das Vergessene von Neuem!‹ erreichen wir zurzeit 180 Schulen in ganz Polen. Gerade was die Geschichte der deutschen Juden im heutigen Polen angeht, haben wir großen Nachholbedarf. Wir sind auf der Suche nach Partnern in Deutschland, die uns helfen und unterstützen können.«
Die polnischen Juden seien zu wenige. Es lebten nur noch einige Tausend im Land. Sie könnten sich nicht allein um die mehr als 1.200 jüdischen Friedhöfe und 200 Synagogen kümmern. »Viele Polen haben keine Ahnung vom kulturellen und historischen Reichtum, der sie umgibt«, sagt Krawczyk. »Im Kommunismus wurde vieles bewusst zerstört. Wir lassen daher die Kinder auf Spurensuche gehen und hoffen, damit auch die Erwachsenen zu erreichen.«
Mitunter werden aber auch im heutigen Polen Denkmäler enthüllt, die noch immer
den Geist der vergangenen Epoche atmen. Vor dem Hauptbahnhof in Gdansk (Danzig) steht seit vergangener Woche ein Denkmal, das an die sogenannten Kindertransporte 1938/39 nach England erinnert, mit denen insgesamt 11.000 zumeist deutsch-jüdische Kinder vor dem Tod gerettet wurden. Fünf Kinder mit Taschen und Koffern stehen als Bronzefiguren und wie abfahrbereit vor dem Bahnhof. Zu ihren Füßen sind die Namen der Städte eingraviert, aus denen sie abfuhren: Berlin, Dresden, Köln, Wien, Prag – und Wroclaw sowie Gdansk. »Das ist tatsächlich ein Fehler«, sagt Piotr Kadlcik, der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Warschau. »Denn die Städte hießen damals Breslau und Danzig, erst danach wurden aus ihnen Wroclaw und Gdansk.« Aber das sei schon so fest im Bewusstsein verankert, dass man diese Städte eben polnisch bezeichne und nicht deutsch, dass wohl die wenigsten überhaupt den Fehler bemerken würden.
Für viele der aus England, den USA und Israel angereisten Kinder, die heute zum Teil über 80 Jahre alt sind, war das Wiedersehen mit Danzig ein schmerzliches Erlebnis. Die Stadt wurde 1945 fast vollständig zerstört. Auch wenn die neuen, die polnischen Bewohner in den Nachkriegsjahren die Altstadt wieder aufbauten, hat sich doch sehr viel verändert. Von den früheren Synagogen ist nur diejenige in Langfuhr, dem heutigen Wrzeszcz, übrig geblieben. Bevor sie vor Kurzem der jüdischen Gemeinde in Gdansk zugesprochen wurde, diente sie als Musikschule. Noch immer stehen dort große Pauken und ein Konzertflügel.
Zur Feier des Tages verwandelte sich die Synagoge in ein Klein-Anatevka. Man wollte den alten Danziger Juden, die von weither angereist waren, um ihre Heimatstadt noch einmal zu sehen, eine Freude machen: So sang Polens bekanntester Kantor, angetan mit knielangem Kaftan und breitkrempigem schwarzen Hut, chassidische Lieder aus den Schtetln des früheren Ostpolens.