von Hannes Stein
Winston Churchill war bekanntlich kein Heiliger: Er soff wie ein Loch, fraß Bolschewisten zum Frühstück und hatte sogar eine homosexuelle Affäre. Churchills größtes Verbrechen aber ist, dass er 1922 als Kolonialsekretär des britischen Empire den Nahen Osten erschuf. Das ist nicht nur deshalb schlimm, weil damit allerhand welthistorischer Unsinn das Licht der Welt erblickte (der »Irak« etwa, den Winston in aller Eile aus drei türkischen Provinzen zusammenschusterte). Bescheuert war die Erschaffung des Nahen Ostens vor allem, weil damit eine verkorkste Spezies Mensch auf den Plan trat, die seither nicht mehr zu quasseln aufgehört hat – der sogenannte Nahostexperte.
Der Nahostexperte zeichnet sich durch Hochmut, mehr oder weniger (meist weniger) versteckten Antisemitismus und einen eklatanten Mangel an Sachkenntnis aus. Der deutsche Nahostexperte – seit Annemarie Schimmel, Allah hab’ sie selig, nach Walhalla abberufen wurde, gibt es ja keine Nahostexpertinnen mehr – hat darüber hinaus noch eine Charaktereigenschaft, die ihn aus der mausgrauen Heerschar der internationalen Spezialisten heraushebt und ihn ganz und gar besonders macht: Er wird von jeder neuen Entwicklung im Nahen Osten überrumpelt. Es erwischt ihn jedes Mal kalt, ganz gleichgültig, was gerade passiert. Im Augenblick etwa überraschen den deutschen Nahostexperten die Verhandlungen zwischen Israel und dem syrischen Regime, die schon seit Monaten laufen.
Eine solche Dauerverblüfftheit bekommt man natürlich nicht so aus der Lamäng hin. Es handelt sich um eine hohe Kunst, für die man ein abgeschlossenes Hochschulstudium und enorme Selbstdisziplin benötigt. Vor allem muss man sich ehern an drei Prinzipien halten, sonst wird man nie wieder zum Fernsehinterview ins Studio eingeladen.
Erstens: Man halte den Konflikt zwischen Palästinensern und Israelis wider alle Evidenz für den wichtigsten Konflikt des Nahen Ostens und erkläre, alle anderen Probleme der arabischen Halbinsel könnten erst gelöst werden, nachdem Israelis und Palästinenser ihr Kriegsbeil begraben hätten. Die wahren Verhältnisse werden zwar schon durch einen flüchtigen Blick auf die Landkarte offenkundig – Israel und die Palästinensergebiete sind ein daumennagelgroßer Flecken am Rand der Region – und den Rest kann man in jeder halbwegs verlässlichen Statistik nachlesen: Allein in Algerien kamen von 1991 bis 2001 mehr Menschen um als in sämtlichen israelisch-palästinensischen Zusammenstößen, die Arbeitslosigkeit in der arabischen Welt ist gigantisch, der Analphabetismus ebenfalls, es herrscht Geschlechterapartheid, die letzte technische Entdeckung wurde ungefähr zur Zeit der Umajaden gemacht und so weiter. Aber wen interessiert schon etwas so Fades wie Fakten?
Zweitens: Man murmele ständig irgendetwas von den »Ursachen der Misere«, erwähne diese aber nie. Allenfalls darf man das eine oder andere unbestimmte Wort über den Koran verlieren, der die Mentalität der Menschen in dieser Region ja bekanntlich ganz schön geprägt hat. Aber kein Sterbenswort von der Demografie und kein Wort von der Rentiersökonomie. Ein Nahostexperte von echtem Schrot und Korn würde nie öffentlich zugeben, dass die arabischen Staaten – wie der Bremer Sozialwissenschaftler Gunnar Heinsohn gezeigt hat – von wütenden jungen Männern überlaufen sind, die nicht allesamt (wie die Achtundsechziger nach 1968) Karriere im öffentlichen Dienst machen können. Es wäre auch höchst unfein, darauf hinzuweisen, dass man in den meisten Gegenden der arabischen Halbinsel nur ein Loch in den Boden bohren muss, um reich zu werden: Es erübrigt sich damit, erfinderisch und fleißig zu sein. Die Regimes können auf mündige Bürger gut und gern verzichten. Es genügt vollauf, ihre Untertanen am Ölreichtum partizipieren zu lassen. Psssst! Breiten wir die Decke des Schweigens darüber, und brabbeln wir lieber etwas von Kulturunterschieden, die in Jahrtausenden gewachsen sein sollen.
Drittens: Man goutiere jede Propagandalüge der arabischen Regimes, als handle es sich um in den Kellern der Weisheit gereiften Emmentaler. Zuvörderst das Ammenmärchen, dass die anderen Araber nachts nicht schlafen können, wenn sie an das Schicksal der Palästinenser denken – dabei sind die ihnen schon 1948 von Herzen schnuppe gewesen. Außerdem verbreite man den Mythos von der »arabischen Straße«. In Kairo, Damaskus und Bagdad, so quassle man in die Mikrofone, lauere ein gewaltbereiter Haufen auf jede westliche beziehungsweise israelische Untat, um zu explodieren, und in einem »Flächenbrand« (dieses Wort sollte ein Nahostexperte bei jeder Gelegenheit benutzen) die Welt zu verschlingen. In Wirklichkeit macht natürlich nicht spontane Gewaltbereitschaft, sondern ein stumpf vor sich hinstarrender Stupor den Schre-cken der arabischen Welt aus. Sogar die erwähnten arbeitslosen jungen Männer schlagen erst dann zu, wenn sich ein geistlicher oder weltlicher Führer findet, der ihnen den Befehl dazu erteilt.
Beherzigt man diese drei Regeln, kann in der Karriere als Nahostexperte nichts mehr schiefgehen. Man wird von einem Talkshowstudio ins nächste weitergereicht und darf denselben Leitartikel immer wieder schreiben, der auf der Titelseite der Zeitung jedes Mal ganz oben rechts angekündigt wird. Natürlich liegt man mit seinen Prophezeiungen garantiert immer daneben. Aber das war ja der Sinn der Übung, denn der Nahostexperte – erwähnten wir das schon? – sollte im Idealfall genauso idiotisch sein wie der Nahe Osten, den Winston Churchill 1922 erschuf.
Von Hannes Stein ist soeben erschienen: »Immer Recht haben! Der endgültige Ratgeber« (Eichborn Berlin, 243 S., 16,95 €)