Charles Darwins Theorie

Design ohne Designer

von Rabbiner Tom Kucera

Wenn das Wort Selektion in einer jüdischen Zeitung erscheint, denken viele so-
fort an die Schoa. Begriffe sind durch die Nazigräuel besetzt. Doch an dieser Stelle soll es um die natürliche Selektion gehen, einen Begriff, der von Charles Darwin ge-
prägt wurde. Der britische Naturforscher wurde 1809 geboren, 2009 gilt als das Jahr Darwins.
In seinem Werk hat er sich mit der na-
türlichen Selektion, einem Teil seiner Evolutionstheorie, beschäftigt. Sie wird – vielfach aus Unwissenheit – durch die Religion abgelehnt. Unnötigerweise. Darwin selbst erklärt den Begriff so: »Wenn leichte Veränderungen auftreten, die einem Lebewesen nützlich sind, dann werden Individuen mit diesen Charakterzügen sicher-
lich die besten Chancen haben, im Kampf um das Leben zu bestehen. Und wegen des starken Prinzips der Vererbung werden sie dazu neigen, Nachkommen von gleichem Charakter zu bekommen. Dieses Prinzip der Erhaltung habe ich natürliche Selektion genannt.«
Auf das Prinzip der natürlichen Selektion stieß Darwin, als er Zuchtanlagen für Tauben besucht und gesehen hatte, wie ei-
nige Charakterzüge künstlich gefördert werden können. Dies wandte er auf die Naturgeschichte an. Kurz gesagt: Wenn ei-
ne Eigenschaft für eine Art gut ist, wird sie genetisch durchgesetzt und sichert das Überleben. Bei der Auslese wird angenommen, dass sie jemand durchführt. Doch keiner selektiert die Organismen, damit sie überleben. Natürliche Selektion ist keine Kraft, sondern ein Prozess, bei dem nicht im Voraus bekannt ist, welche Änderungen nötig sind. Natürliche Selektion bedeutet nur, dass ein Organismus mit einer besseren Anpassungsfähigkeit mehr Nachkommen hinterlässt als derjenige, der weniger der Umwelt angepasst ist.
Es hört sich merkwürdig an, dass ich die Abwesenheit einer äußeren Kraft betone. Denn gleich folgt die Frage: Wo ist Gott dabei? Die Antwort: Er ist nicht in diesem Prozess, sondern hinter der Existenz dieses Prozesses, der spontan abläuft. Ich denke, wenn ich aus naturwissenschaftlicher Sicht sage, die natürliche Selektion sei ein »Design ohne Designer«, es nicht das Konzept Gottes schwächt. Wenn angenommen wird, dass die natürliche Selektion nachweisbar ist, müssten vielmehr ihre Er-
gebnisse aus der »metaphysischen« Sicht problematisch sein. Parasiten plagen unser Leben, manche Tiere sind grausam, und viele genetische Abweichungen bringen uns viel Leid.
Der Wissenschaftler Alfred Russel Wallace, ein Zeitgenosse Darwins, hat bedauerlicherweise den Ausdruck der natürlichen Selektion in »Überleben der Stärksten« ge-
ändert und damit einen Mythos in die Welt gesetzt. Demzufolge würden sich diejenigen Organismen, die größer, stärker, schneller und leistungsfähiger sind, erfolgreicher vermehren. Dieser Gedankenfehler führte dazu, dass im Darwinismus Konsumismus, Atheismus und sogar Faschismus und schließlich auch Schoa gesehen werden. Doch die natürliche Selektion Darwins ist kein rücksichtsloser Wettbewerb im Überleben der Stärkeren.
Die Naturgeschichte zeigt uns, dass die Organismen, die eine soziale Kooperation entwickelten, auch die besten Überlebenschancen hatten. Dies beginnt schon in der bakteriellen Welt, wo viele Stämme auf die eigenen Vorteile verzichten, damit die ganze Kolonie überleben kann. Dieser Altruismus setzt sich in der Welt der Ameisenkolonien fort und endet beim Menschen, der nur dank des sozialen Zusammenhalts in der Natur überleben konnte. Die Kooperation zahlt sich aus und begünstigt den eigenen Nachwuchs. Und wer mit den an-deren zusammenarbeitet, kann in der Not auf deren Hilfsbereitschaft zählen. Die Egoisten hatten auf Dauer keine Chance. Die Natur des Menschen ist also von Anfang an zum Guten gezwungen. Dieser Zwang wird im Judentum als Mizwa definiert.
Die Motivation dazu beschreibt unsere Tradition mit dem Wort Chessed. Dieser hebräische Begriff ist nicht eindeutig zu übersetzen – Rabbiner Jonathan Magonet deutet ihn als Liebe, das Langenscheidt-Wörterbuch als Gunst, Gnade oder Gefallen. Ich denke, dass es einfach als Güte übersetzt werden kann.
Die Taten der Güte, die belohnenswert sind, heißen im Hebräischen Gemilut Chassadim. Sie reichen von Bikkur Cholim, dem Krankenbesuch, über die Sozialarbeit bis zu Zaar Baalei Chaim, dem Tierschutz. Aus dieser Sicht kann behauptet werden, dass das jüdische Tikkun Olam nicht nur ein moralisches Gebot ist, sondern ein Naturgesetz der natürlichen Selektion, das ein gesundes Überleben der Menschenart gewährleistet.
Bei der natürlichen Selektion ist auch eine Entwicklung zum Guten sichtbar. Delfine, die uns beeindrucken und ein fast esoterisches Symbol darstellen, sind Säugetiere im Wasser. Wie ist es dazu gekommen? Erst vor einigen Jahrzehnten wurde nachgewiesen, dass Delfine ursprünglich ein Basilosaurus waren, ein dem Wolf ähnliches Raubtier, das sich auf dem Land entwickelte, erst dann ins Wasser ging und sich mithilfe der natürlichen Selektion zu Waltieren entwickelte. Dabei sind anscheinend die Eigenschaften eines blutrünstigen Raubtieres verloren gegangen. Auf der anderen Seite war der ursprüngliche Höhlenbär wahrscheinlich ein Vegetarier mit Vorliebe für Früchte. Darwinismus – richtig verstanden – bietet eine Mischung aus Selbstlosigkeit und Selbstbezogenheit, aus Wettbewerb und Zusammenarbeit. Im an-
thropologischen Sinne ist dies die rabbinische Lehre vom Jezer Hara, vom bösen Trieb, der nicht böse ist, sondern böse werden kann. Jezer Hara ist ein neutrales Po-
tenzial, das sich abhängig von Umweltbedingungen in extreme Richtungen entwi-ckeln kann. Das naturwissenschaftliche Konzept der natürlichen Selektion steht also nicht im Widerspruch zum Judentum. Darwin selbst schrieb in seinem vor genau 150 Jahren veröffentlichten Buch Über die Entstehung der Arten: »Ich sehe keinen guten Grund, warum die Ansichten in diesem Buch irgendjemandes religiöse Gefühle verletzen sollen.«

Der Autor ist Rabbiner der liberalen Münchner Gemeinde »Beth Shalom« und promovierter Biochemiker

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