von Moritz Piehler
Rabbi Micah Hyman macht eine ausladende Geste über die steilen Sitzreihen: »Habe ich nicht unglaubliches Glück, hier arbeiten zu können?« Der helle große Raum im schiffsförmigen Teil der Beth-Sholom-Synagoge in San Francisco bietet Raum für über 700 Menschen, an Jom Kippur war jeder Platz belegt. Es war das erste Versöhnungsfest in der neuen Synagoge und auch das erste für Rabbi Hyman in seiner neuen Gemeinde. Das Gebäude ist nur einen Katzensprung von der Golden Gate Bridge entfernt. Auf den Straßen in der Umgebung ist jüdisches Alltagsleben zu sehen, gelangweilte Teenager auf dem Weg in die Kampner Lisa Hebrew Academy, eine jüdische Privatschule, an der Ecke wirbt das Bagel House für »das beste Gebäck der Stadt«.
Innerhalb der großen jüdischen Gemeinde San Franciscos nimmt Hymans Synagoge eine besondere Stellung ein. Denn sie fällt immer wieder durch ungewöhnliche Aktionen und Angebote auf. So konnten die Beter an Jom Kippur in der Synagoge einen Wiederbelebungskurs belegen. Für Rabbi Hyman ist dies kein Widerspruch. Bei Jom Kippur gehe es doch um Leben – »und gibt es einen besseren Weg, das Leben zu feiern, als eines zu retten?«
Hymans Erfolgsgeheimnis ist einfach: Er hat gelernt zuzuhören. Erst in den Sommercamps, die er für jüdische Kinder organisierte, dann in seiner Zeit als Krankenhausseelsorger und zuletzt in Paris, wo er half, neue konservative Gemeinden zu gründen. Eigentlich war er nur seiner Frau hinterhergereist, am Ende entdeckte er in Frankreich, wie groß das Bedürfnis nach einer traditionellen aber weltoffenen jüdischen Religion war. Weil die Orthodoxie in Frankreich so stark ist, haben zum Beispiel Ehepaare, die gleichberechtigt beten wollen, keine Anlaufstelle. Hyman: »Wir organisierten eine konservative Batmizwa in Nancy, und die Leute kamen. Es war ein tolles Erlebnis.«
Hyman ist in Santa Monica, Kalifornien, aufgewachsen. »Ich war jeden Tag am Strand. Meinst du, da lasse ich mich festnageln auf Surferboy oder religiöser Jude?« Dass diese Einstellung nicht immer auf Gegenliebe stößt, versteht sich. Besonders in Israel, wo Hyman versucht, zehn Prozent seines Lebens zu verbringen, hat er es nicht einfach. Aber er bemerkt auch dort Veränderungen. Er traf junge Israelis, die nicht in religiösen Familien aufgewachsen sind und dennoch nach der Antwort auf die Frage suchen, was es heute bedeutet, ein israelischer Jude zu sein. »Zionismus und Sozialismus nehmen ab, und wir können zusammen abends im Club feiern und tanzen und am nächsten Morgen zusammen beten. Und es fühlt sich gut an!«
Hyman hat ein verschmitztes Lächeln und trägt seine Kippa lässig schräg auf dem Kopf. Wenn ihm ein Punkt besonders wichtig ist, rückt er näher an seinen Gesprächspartner, nimmt Kontakt auf. Er ist ein intensiver, geübter Sprecher und strahlt eine überbordende Energie aus. Immer wieder ruft er laut gute Wünsche an seine Mitarbeiter in den Flur, ein wenig erinnert er an einen erfolgreichen Footballtrainer.
Mittlerweile gehören zur Beth-Sholom-Gemeinde rund 500 Familien, eine Zahl, die ständig weiter wächst. Der Kurs für Übertrittswillige ist voll, 25 Schüler hat Hyman dort, bei weitem nicht nur solche mit jüdischen Partnern. Das Interesse an der offenen Gemeinde ist groß, Hyman entdeckt sogar »ein gesteigertes Bedürfnis, eine Suche« nach religiösem Inhalt. Er vergleicht seine Gemeinde und die konservative Bewegung mit dem Recycling-Symbol, das man in San Francisco wahrscheinlich öfter als in jeder anderen amerikanischen Stadt sieht: »Bewahren, rekonstruieren und erneuern, das sind die drei Bewegungen, die ich sehe.«
An Jom Kippur gab es neben dem traditionellen Gottesdienst mit den Wiederbelebungskursen noch weitere alternative Angebote. »15 Leute haben meditiert, wir hatten Diskussionsrunden über den Irak-Krieg.« Das besondere an San Francisco sei die Offenheit und bunte Mischung der Stadt. Das spiegelt sich auch in Beth Sholom wieder. Besonders die russischen Immigranten bilden seit einigen Jahren eine große Gruppe. Viele von ihnen seien auf der Suche nach sich selbst, nachdem die Religion ihrer Eltern in der Sowjetunion unterdrückt wurde. Sie alle finden einen Platz in Hymans Gemeinde.
Der junge Mann hat ein Talent, Menschen wahrzunehmen, mit ihnen zu kommunizieren. Als er an der University of California in Los Angeles als Seelsorger im Krankenhaus arbeitete, hat er sich um Menschen verschiedener Religionszugehörigkeit gekümmert. »Ich stelle keine Vermutungen über den Glauben eines Menschen an. Aber ich hoffe, ich kann gut genug zuhören, um die Frage dahinter zu verstehen.« Diese Erfahrung hat er in seine Gemeinde mitgebracht. »Wenn ich gefragt werde: ›Rabbi, was soll ich machen?‹, dann weiß ich natürlich, dass sie im Geiste der Tora handeln sollen. Aber ich muss herausfinden, was die wirkliche Frage ist und muss die Menschen selbst die Antwort finden lassen.«
In Hymans Synagoge sind die Sitzreihen gegenüberliegend angebracht, es soll keine Schulveranstaltung sein, sondern Interaktion. In der Mitte bewegt sich der Rabbi hin und her, tanzt von einer Seite zur anderen. »Ich liebe die Welt«, sagt er und erzählt voller Glück: »Für mich ist es der Himmel auf Erden, wenn ein russischer Immigrant, ein Skater, ein Transvestit und ein traditioneller Jude in einer Reihe nebeneinander sitzen und die Gebete unserer Vorfahren sprechen. Und das ist hier an Jom Kippur passiert.«
www.bethsholomsf.org