von Pieke Biermann
Moische Willis, sagt er. An dieser Mischung sei er zu erkennen. Er sehe eben aus wie Hollywood-Star Bruce Willis, spötteln manche, seit er den Schwund seiner natürlichen Kopfbedeckung mit Ganzkopf-Rasur quittiert. Das ist Tuvia Schlesinger: Selbstironie, sanft vorgetragen, fast entschuldigend.
Es ist einer der raren, richtig kalten Tage dieses Winters. Und was da trotz Rundum-Verpackung aus Lammfelljacke, Jeans, solidem Budapester Schuhwerk und Basecap bibbernd, aber fürsorglich vor dem Parkcafé am Wilmersdorfer Preußenpark wartet, ist glücklicherweise kein Haudrauf, keine Muskelspiel-Ikone à la USA, sondern eher die Verkörperung von Mitteleuropa. Oder, um in Hollywood zu bleiben: Richard Dreyfuss. Der spätere. Bei dem die filigrane, randlose Intellektuellenbrille und die schmalen, langen Hände auch keinen schlappen Schreibtischkörper schmücken. Einer, der eher leise zwischen Sarkasmus und Melancholie changiert.
Tuvia Schlesinger ist ein Kind jenes Mitteleuropa, das im vergangenen Jahrhundert Epizentrum der Weltkatastrophe wurde. Obwohl es zunächst gar nicht danach aussieht. 1952 in Haifa geboren, wächst er als echt israelischer Steppke auf, »mit Sonne, Sand und Meer, ideal für Kinder«. Es sind zwar harte Aufbauzeiten, aber sein Vater arbeitet in einer Fischerei-Kooperative. »Wir hatten so immer zu essen auf dem Tisch, notfalls hat er eben Fisch mitgebracht.« Zu Hause wird Deutsch gesprochen. Das versteht der kleine Tuvia zwar irgendwie, aber er redet Hebräisch. Er geht in den Kindergarten, in die Schule. Aber plötzlich, »das konnt’ ich überhaupt nicht verstehen!«, ziehen die Eltern aus dem sonnigen Kinder-Haifa nach Berlin. In eine Stadt, die nicht bloß kälter ist und kein Mittelmeer hat, sondern auch in ein Land, das unter einem mörderischen Schatten liegt. »Viel später hab ich begriffen, warum wir hierher gekommen sind«, sagt er. »Die Familie, von der nur noch so wenige übrig waren, wollte lieber zusammen bleiben.«
Tuvia Schlesingers Vater ist gebürtiger Wiener, hat seine gesamte Familie in der Schoa verloren und war nach einer langen »typisch jüdischen Flüchtlingsgeschichte« 1942 nach Palästina gekommen. Seine Mutter stammt aus Berlin, sie und ihre Eltern hatten versteckt dort überlebt und waren dann auch nach Palästina gegangen. Aber Tuvias Großeltern kommen mit dem Klima nicht zurecht. Sie ziehen zurück. Und die restliche Familie zieht hinterher. »Mit dem Schiff nach Genua und weiter mit dem Zug«, ergänzt er. Warum das wichtig ist? Weil im Flugzeug nicht möglich gewesen wäre, was seine Mutter ihm erzählt hat: »Kaum waren wir über die deutsche Grenze, hast du aufgehört Hebräisch zu sprechen und nur noch Deutsch geredet!«
Wenig aufgewärmt vom Heißgetränk im Café stehen wir im Preußenpark auf Schneeflocken, die man diesen Winter an den Fingern einer Hand abzählen kann, und versuchen, ein Gespräch über Fußball. Beziehungsweise über den TuS Makkabi Berlin zu führen. Oder noch genauer, über ein bestimmtes Spiel zwischen Makkabi und einem Köpenicker Verein im September 2006, das nicht zu Ende gespielt werden konnte und das Tuvia Schlesinger in der Republik bekannt gemacht hat. »Hier im Preußenpark bin ich übrigens zum ersten Mal mit deutschen Regeln zusammengerasselt«, sagt er augenzwinkernd und zeigt auf das weiß marmorierte Rasenrund. In Berlin fängt seine Fußballgeschichte an. Straßenfußball, natürlich. Sein Großonkel schenkt ihm einen Ball. »Ich hab ständig gespielt, hab’ den gegen die Wände geknallt, bis die Leute sich beschwerten.« Als die Familie im Preußenpark spazieren geht und er den Rasen sieht, ist er selig. »Bin natürlich wie verrückt los, keine Kinder, bloß Hunde, ‹ne wunderbare freie Fläche.« Sofort taucht die sprichwörtliche »Wilmersdorfer Witwe« auf, stockschwingend und zeternd: »Verboten! Das ist verboten!« Wie soll er das kapieren mit seinen sieben Jahren? Oder gar ahnen? »Die Hunde haben doch da auch gespielt und, ähm, hingeschissen.«
Auch sonst geht sein Leben normal deutsch weiter. Schule, Wirtschaftsfachschule, Ausbildung zum Hotelkaufmann im Kempinski. Von dort 1973 nach München ins »Vier Jahreszeiten«, ein Jahr nach dem Terroranschlag von Palästinensern auf die israelische Olympiamannschaft. Er wird schon kurz nach der Ausbildung Nightmanager, »Hoteldirektor, aber nur in der Nacht«, erzählt er lachend. Das sieht nach steiler Karriere aus. Dummerweise heißt Karriere im Hotelgewerbe: in aller Welt einsetzbar sein. Nach Hawaii soll er. Er lässt es sausen, der Liebe wegen. Er hat eine Freundin in Berlin. »Und damit war die Karriere beendet. Die Liebe dann auch irgendwann. Hab lange an dem Karriereknick geknabbert.« Bis 1978 arbeitet er in Berliner Hotels, dann lernt er auf der Tourismus-Börse einen Israeli kennen, der ihm einen Posten in Tel Aviv anbietet. 1979 fährt er hin. Diesmal steht keine Freundin quer. Nach drei Wochen schmeißt er trotzdem hin. »Ich hatte mein komplettes Hebräisch verloren!« Niemand außer ihm findet das schlimm. Englisch reicht doch. »Nein, nur mit Englisch tanzen einem die Leute auf der Nase rum.« Und geht in einen Kibbuz, in den die Jewish Agency Neuankömmlinge schickt, damit sie die Sprache lernen. »Vier Stunden arbeiten, vier Stunden Unterricht, war ein großes Erlebnis für mich als Stadtkind. Sehen, wie Pflanzen wachsen, von der Saat bis zur Ernte.« Und eine neue Liebe erleben. Er lernt seine spätere Frau kennen, die es aus Madrid dorthin verschlagen hat. Es wird wieder nichts mit der Hotelkarriere. Aber diesmal durchkreuzt nicht die Liebe, sondern der Krieg seine Pläne. Im Oktober 1979 wird er, der gebürtige Israeli, einberufen. Er soll in den Libanonkrieg ziehen.
Tuvia Schlesinger geht nach Berlin zurück. Will lieber mit einer Frau als mit Hotelkonzernen verheiratet sein und wird – Polizist. Wie das? Ganz einfach: »Im selben Haus wie meine Mutter wohnte ein Polizeibeamter, den kannte ich schon als Kind. Der war an der Polizeischule und sagte: ›Probier doch mal, da ist gerade wieder Bewerbungszeit.‹« 1980 geht es los. Zweieinhalb Jahre später ist er fertig mit der Schule. Danach geht er in eine EB, eine Einsatzbereitschaft, wie die geschlossenenen Einheiten damals hießen. Als Jude, als Israeli in der deutschen Polizei, für ihn war das nie ein Problem. »Gut, ich kann nicht wissen, was hinter meinem Rücken gesprochen wird. Aber ich habe nie einen Hehl daraus gemacht, dass ich Jude bin, und das wurde akzeptiert.« Die Berliner Polizei ist, auch wenn das noch immer nicht alle wissen (wollen), entschieden weiter als manche Berliner Milieus in Sachen Multikulturalität und Toleranz gegenüber Minderheiten. Berliner Polizisten sind heute keineswegs alle weiß, männlich, christlich und heterosexuell. Und Aufklärung über den Nazistaat gehört ebenso zur Grundausbildung wie das Gespräch mit Schoa-Überlebenden. Oder Tränengas-Übungen. Die stehen auch auf Schlesingers Lehrplan. »Man ging in einen Raum mit der Gasmaske auf, dann wurde eine Tränengaspatrone reingeworfen, und man musste da drin den Filter wechseln. Ich hab gesagt: ›Das mach’ ich nicht, ich geh’ nicht in eine Gaskammer.‹ Sie haben es akzeptiert.« Niemand hängt irgendwas an eine zu große Glocke, alle agieren sensibel und mit Augenmaß. So wie bei der zweiten kribbeligen Situation. Die EB hat eine NPD-Veranstaltung zu schützen. Versammlungsfreiheit ist ein hohes liberales Rechtsgut, das für antiliberale Zwecke missbraucht werden kann und dennoch notfalls von der Polizei durchgesetzt werden muss. »Ich bin zu meinem EB-Führer gegangen und hab gesagt: ›Ich möchte das nicht, gib mir solange einen anderen Job.‹« Ansonsten tut Tuvia Schlesinger Dienst wie andere auch und erlebt die meisten der berüchtigten Berliner Straßenschlachten. Meistens in der ersten Reihe. Ende der 80er Jahre ist damit Schluss. Wieder einmal hatte seine Gruppe Einsatz in Kreuzberg. Die Demo ist aufgelöst. Sie sollen die Kreuzung räumen. Sie steigen aus der »Wanne«, gehen auf die Demonstranten zu. Die hauen ab. Die Kollegen steigen wieder auf, er als letzter. »Ich hab’s irgendwie gespürt. Ich dreh’ mich um mit meinem Schild, und in dem Moment kommen zwei riesengroße Steine auf mich zugeflogen. Der eine landet am Schild, der andere am Helm. Masel pur. Da war mir klar: Jetzt ist Ende mit diesem ewigen Gekämpfe. Dann hab ich mich zum Abschnitt beworben.« Jetzt macht Tuvi, wie die Kollegen ihn nennen, im Polizeiabschnitt 32 am Gendarmenmarkt die Schreibarbeit um die Kripoarbeit herum: geklaute Fahrräder, Gaunereien, häusliche Gewalt. Hauptkommissar ist er und seit 27 Jahren Polizist.
Schon zehn Jahre länger ist er Fußballer mit Leib und – heute vor allem – Seele. Der Wilmersdorfer Straßenfußballsteppke von 1959 war bald Vereinsjunior beim BSV 92. Klar will er Profi werden, so wie Pierre Littbarski oder Wolfgang Sidka, gegen die er spielt. Aber da ist die Mama vor. »Sie hat immer darauf geachtet, dass ich die Hausaufgaben mache.« 1970 wird auch in Berlin Makkabi wiedergegründet. »Dann kam Hänschen Sperber und hat Jungs zusammengesucht.« Hannes Sperber, der »uralte Makkabäer«, eine jener deutsch-jüdischen Fußball-Legenden, die in der Ausstellung »Kicker, Kämpfer, Legenden« Ende 2006 im Centrum Judaicum gefeiert wurden. Tuvia Schlesinger ist von Anfang an dabei. 2005 wird er Vorsitzender des TuS Makkabi Berlin. Und seit Januar 2007 darf der Sportplatz mit dem Clubhaus in Charlottenburg »Julius-Hirsch-Sportanlage« heißen, benannt nach einem der beiden bisher einzigen jüdischen Nationalspieler. Von 1911 bis 1914 kickte Hirsch für Deutschland, 1943 wurde er in Auschwitz ermordet.
Makkabi hat mehrere Polizisten als ehrenamtliche Trainer, Betreuer und Spieler aller Hautfarben, Glaubensbekenntnisse und Kulturen. Das ist Programm. Aber genau das Programm passt einigen Leuten offenbar nicht. Und diese Leute werden lauter und schamloser – nicht nur da, wo die NPD Wahlsiege feiert wie in der Köpenicker Gegend, in der Makkabi vergangenes Jahr am Dienstag nach dem jüdischen Neujahrsfest zum Match antritt.
Die Makkabi-Spieler werden von Anfang an mit antisemitischer Hetze überzogen. Der Schiedsrichter hört angeblich nichts, obwohl er daneben steht. Die Funktionäre der VSG Alt-Glienicke rühren keinen Finger gegen das halbe oder ganze Dutzend alkoholisierter rechter Pöbler. In der 78. Minute verlassen die Makkabi-Spieler unter Protest den Platz. Sie werden auch bei der Abfahrt noch angegriffen. Unterschwelliger Hass: Bananen gegen schwarze, Fladenbrot gegen türkische, Verbalattacken gegen jüdische Spieler. All das ge- hört auch zum Fußball. Nicht erst heute und nicht nur hier. »Das Erschreckendste war, dass selbst später beim Sportgericht kein Zuschauer mit Namen und Gesicht dafür einstehen wollte, was er gesehen hat«, sagt Tuvia Schlesinger. »Deshalb sind wir so massiv an die Medien herangetreten.«
Es war wieder so ein Moment, wo ihm klar wurde: Jetzt ist Ende. Deshalb kennt ihn jetzt die Republik. Dabei wäre er eigentlich nichts lieber als einfach glücklich mit seiner neuen Liebe und so sanft wie hartnäckig Visionär für TuS Makkabis Zukunft. Ehrenamtlich, versteht sich.