von Hellmuth Karasek
Die beiden Ehrendoktorwürden, die Marcel Reich-Ranicki Anfang des Jahres verliehen werden – die der Universität Tel Aviv wird ihm am 2. Februar im Römer in Frankfurt am Main, die der Freien Universität Berlin (FU) am 9. Januar in der »Silberlaube« überreicht – sind gewiß nicht die ersten Doktorhüte, die meinem Freund, Gönner, Förderer und Wegbegleiter seit Ende der sechziger Jahre, verliehen wurden. Wenn das Internet-Archiv richtig gezählt und ich richtig nachgezählt habe, sind sechs Ehrendoktor-Auszeichnungen vorausgegangen. Die der Universität Uppsala in Schweden bereits 1972. Dann folgten Augsburg, Bamberg, Düsseldorf, Utrecht und dann die der Universität Mün- chen 2002, bei der Reich-Ranicki eine besonders berührende, anrührende Dankrede hielt, die sehr persönlich gehalten war, so als hätte auch er anerkannt, daß die Anerkennung, die ihm widerfuhr, nicht nur seinem Werk, sondern seinem Leben, dem gelebten Werk, also seinem opus magnum, gewidmet sei.
Die beiden jüngsten Doktorehrungen sind aber von allen die wichtigsten und das aus dem gleichen Grund. Nicht, daß es an Geschriebenem, in Büchern, Sammelbänden, Monographien zu literarischen, zu literaturkritischen, zu musikalischen und literaturhistorischen Schriften nicht genug gäbe; die Bücher des »Literaturpapstes« füllen zwei Regale bei mir – wobei die Monumentalarbeit seines Kanons, der gerade im Abschluß begriffen ist mit seinen zehn Bänden und einem gesonderten Begleitband, da nicht mehr dazu »paßt«.
Sein Leben. Da sich die Ehrungen auf sein »Lebenswerk« berufen, darf man sich erinnern, daß seine Autobiographie (Mein Leben, DVA 1999) einer der größten Bucherfolge der deutschen Literatur ist und gleichzeitig einer der größten Bucherfolge, die ein deutschsprachiger Autor international erreichen konnte.
Das hat seine Ursache auch darin, daß es – ähnlich wie Steven Spielbergs Film Schindlers Liste – als »Drehbuch« einer furchtbaren Schicksalsherausforderung mit der Bedrohung der Ermordung und Auslöschung von der Zeitgeschichte konzipiert wurde. Und daß es – daher die Parallele zu Spielbergs Film – wenn schon kein glückliches, kein »Happy-End« finden konnte, doch im Alter einen guten, einen erfüllten Abschluß durch die letzten Jahrzehnte gesucht, erstritten und gefunden hat. Den Erzfeind, Hitler und seine willigen, zumindest gleichgültigen Schergen, hat sich der 1920 geborene Reich-Ranicki nicht ausgesucht, nicht aussuchen können. Aber daß er sich der Herausforderung stellte, zunächst ums nackte Überleben kämpfen mußte, das geschah mit der »Waffe« der deutschen Musik, der deutschen Kultur. Was der frühere Kanzler Helmut Kohl für viele Deutsche als (zu Unrecht bespöttelte) »Gnade der späten Geburt« bezeichnete, war bei Reich-Ranicki der Fluch, als Jude in eine mörderisch falsche, von Mordlust und Massenvernichtungswut aufgestachelte Zeit hineingeboren worden zu sein.
Es sagt sich aus der Rückschau leicht und wirkt so, als suche man ein Leben zum Filmplot zu glätten, das sich doch in unvorstellbar grausigen Überlebenskämpfen vollzog, der völligen Rechtlosigkeit und Willkür, den bösesten Zufällen ausgesetzt schien, aber richtig ist: Reich hat überlebt, weil er in diesem aussichtslosen David-Goliath-Kampf nur eine Selbstversicherung hatte. Er klammerte sich mit beharrlicher, ja unbeirrbarer Kraft an die Kultur derjenigen, die mit seiner Auslöschung die Auslöschung all dessen betrieben, was eine Kulturnation unter deutsch zu verstehen hatte.
Und er hatte ein Lebensziel über das Überleben hinaus: Er wollte es in Liebe mit seiner Frau Teofila, genannt Tosia, führen, mit der er sich gemeinsam zu retten suchte, was ihm, nicht zuletzt durch die Musik, durch die Literatur, durch eine Scheherazade-ähnliche Fabulierkraft gelang.
Was für ein Stoff, was für ein Lebensstoff. Da gibt es im Ghetto in Warschau ein Konzert-Leben, neben dem hundertfachen Sterben mit der Musik der Peiniger, die ihrem barbarischen Zugriff sozusagen aus der Hand gerissen wird. Wie sehr die Nazis ahnten, daß man einer Nation ihre Kultur nehmen muß, um ihr Selbstbewußtsein zu barbarischer Willfährigkeit zu reduzierten, zeigte sich an den Bücherverbrennungen; und auch daran, daß es in Polen verboten war, Chopin zu spielen.
Als Tosia und Marcel Reich von einem Polen versteckt wurden, der in einer Art wahnwitzigen und stolz-trotzigen Faustwette (»Hitler will Sie vernichten – ich setze dagegen«) handelte, da erzählte ihm Reich, um die Dunkelheit, die Angst und die furchtbare Zeit zu vertreiben, Geschichten, die er in Berlin gelesen, in Berlin auf den Theaterbühnen der Stadt, mitten im Herzen der Finsternis, illuminiert von Schauspielern, Scheinwerfern und szenischer Intuition gesehen hatte. Bis heute ist er durch die Schule des Überlebens gegangen, ein großartiger Erzähler, der Pointen und dramatische Wirkungen zu setzen versteht. Seine Kunst ging damals nicht, wie Lessing schreibt, »nach Brot«, sondern ums pure Überleben.
Literatur, Musik und Theater als Überlebensstrategie – das läßt sich nicht planen, das kommt aus dem Instinkt, aus der Natur, aus einem Hunger, den man später als Bildungshunger verspotten wollte. Der junge Marcel Reich-Ranicki konnte 1937 in Berlin-Wilmersdorf noch sein Abitur machen, eine wahnwitzige Vorstellung, wenn man sich vor Augen hält, daß ihm als »Nicht-Arier« die Teilnahme am Geschichtsunterricht untersagt war. Man könnte sarkastisch sagen, die Geschichte sollte ihm nicht zugänglich sein, sie sollte an ihm »vollzogen«, »vollstreckt« werden, als (später) vorgesehene »Endlösung«.
Daß er sich in diesem dem Krieg entgegenmarschierenden Staat, der »total« nach innen und außen geführt werden sollte, in die Kultur flüchtete, diente nicht dem »Trost«, sondern der Selbstbehauptung, der Selbstbestätigung. Das imposante Werk des Kanons zeigt, welchen zunächst unbewußten, später bewußten »Sinn« Reich-Ranicki der Literatur in einer Humanisierung und Zivilisierung der Gesellschaft zuerkennt. Und wenn er, in einem seiner schönsten Bücher, die Kritiker, also Schlegel wie Lessing, Kerr wie Polgar oder Fontane als »Anwälte der Literatur« vorstellt und versteht und sie seinen Lesern so verständlich macht, dann beschreibt und belebt er die Aufgabe, die er sich selbst erschrieben, erarbeitet und erlebt hat.
Reich-Ranicki hatte aus seiner Schulzeit, aus seinen Theaterbesuchen, aus seiner Lektüre, das selbstverständliche, damals aberwitzige Bewußtsein gewonnen, er könne sich 1937 an der Friedrich-Wilhelms-Universität als Jude bewerben. Er wurde abgelehnt und ein Jahr später nach Polen deportiert. Jetzt verleiht ihm eine Berliner Universität den Ehrendoktor. Auch aus Einsicht in sein Wirken und seine Vermittlerrolle als Anwalt der deutschen Literatur.