von Gerhard Mumelter
Binario 21, Ort des Vergessens. Über Gleis 21 rollen seit Jahrzehnten keine Züge mehr. In das düstere Tiefgeschoss des Mailänder Bahnhofs dringt nichts von der Hektik der Ankunftshalle. Das Rattern der Baumaschinen, die Lautsprecheransagen, die Menschenströme – was sich in den höheren Etagen desselben Gebäudes abspielt, scheint Teil einer anderen Welt zu sein.
Stille und Dunkelheit herrschen im Tunnel, in dem das einsame Gleis liegt. Obwohl von der Via Ferrante Aporti bequem zu erreichen, wissen die meisten Bewohner der italienischen Finanz- und Wirtschaftsmetropole nichts von seiner Existenz. Fast ist das Gleis ein Fremdkörper in dem von Ulisse Stacchini errichteten eigenwilligen Jugendstilbau mit seiner lichtdurchfluteten Glaskuppel, der Frank Lloyd Wright als »schönster Bahnhof der Welt« galt. Nach Kriegsende entlud man hier zeitweilig Postwaggons, dann wurde der Schienenstrang stillgelegt und vergessen.
Zu denen, die Gleis 21 nie vergessen können, gehört Liliana Segre. Am 30. Januar 1944 wurde die damals 13-Jährige mit ihrer Familie im düsteren Untergeschoss in einen Zug gedrängt. »Wir wurden wie Vieh in Güterwaggons getrieben, geschlagen, erniedrigt und verspottet«, erinnert sich die Frau, deren Vater in Auschwitz ermordet wurde. Nur 20 der 605 in den Zug gepferchten Juden und politischen Dissidenten überlebten die Lager. »Ich habe meine Mädchenträume in Auschwitz begraben«, sagt Segre.
Die Nazis nutzten das abgeschiedene Gleis 21 zur Deportation nach Auschwitz und Bergen-Belsen. Von der Öffentlichkeit nahezu unbemerkt, brachten Lastwagen die Juden aus dem San-Vittore-Gefängnis in den Tunnel, wo sie auf Waggons verladen wurden.
Was Mailands Bürgermeisterin Letizia Moratti als »Symbol der Barbarei« gilt, soll jetzt zum Museum werden. Darauf haben sich Eisenbahnverwaltung, die Stadt Mailand, die Region Lombardei und die jüdische Gemeinde geeinigt. »Es war unsere Absicht, die Zerstörung dieses Ortes zu verhindern«, bestätigt Roberto Jarach, Vizepräsident der Museumsstiftung und langjähriger Vorsitzender der Mailänder jüdischen Gemeinde.
Mehr als fünf Jahre dauerten die Vorarbeiten zur Verwirklichung des Anliegens. Eine Unterschriftensammlung unterstützte das Projekt. 2004 luden die Initiatoren den aus Saloniki stammenden »Auschwitz-Geiger« Jacques Stroumsa nach Mailand ein. Ein medienwirksamer Auftritt des 90-jährigen Musikers am Gleis 21 förderte das Projekt.
Nach dem Willen der Architekten Eugenio Gentili Tedeschi und Guido Morpurgo soll dort kein Schoa-Mahnmal entsehen, sondern »ein Ort, der Wissen und Bewusstsein vermittelt und den Dialog zwischen Religionen und Kulturen fördert«. Kein Museum, sondern »ein Ort des Studiums und der Begegnung«. Der beklemmende Tunnel mit dem Gleis 21 soll unagetastet bleiben. In den übrigen Räumen sind eine Gedenkstätte und ein Schoa-Dokumentationszentrum geplant. In einem fünf Meter breiten und 100 Meter langen Gang werden die Besucher mit den drei Phasen des Holocaust konfrontiert: Verfolgung, Deportation und Ermordung. Die Namen der 8.000 in die Vernichtungslager deportierten italienischen Juden sollen auf eine große Wand projiziert werden. Fünf Millionen Euro sind für die 5.000 Quadratmeter umfassende Gedenkstätte veranschlagt, fertig sein soll sie im kommenden Jahr.
Für Marco Szulc, Vorsitzender der Vereinigung »Kinder der Schoa«, soll der in Italien und Europa einmalige Ort nicht nur an die sechs Millionen Opfer der Schoa erinnern, »sondern sich zum Hort der Kultur und der didaktischen Arbeit gegen Rassismus und Intoleranz entwickeln«. Gleis 21 solle der Entwicklung eines kollektiven Bewusstseins dienen, hofft Szulc.
Für die heute 78-jährige Liliana Segre wird mit der Verwirklichung des Museums ein langer Wunsch wahr. Am Gleis 21 kann sie nun »mit anderen jenen traumatischen Augenblick teilen, in dem ich zum letzten Mal die Hand meines geliebten Vaters spürte«.
www.binario21.org