von Wolf Scheller
Sie ist gerade mal zwanzig, ein junges französisches Mädchen. Es ist ein warmer herrlicher Frühlingstag, dieser 7. April 1942 in Paris. Hélène Berr ist auf dem Weg zu Paul Valéry, den sie um eine Widmung gebeten hat. Der berühmte Dichter hat tatsächlich bei der Concierge sein Buch Tel quel hinterlegt und auf das Titelblatt geschrieben: »Beim Erwachen, so milde das Licht, und so schön dies lebendige Blau.«
Die Worte kommen der Stimmung der jungen Frau entgegen, die an der Sorbonne eine Diplomarbeit über den englischen Dichter Keats vorbereitet. Eigentlich hatte sie auf Lehramt studiert. Doch als Jüdin durfte Hélène Berr die Prüfung nicht ablegen. Beim Flanieren im Jardin du Luxembourg aber lässt die junge Studentin sich gefangen nehmen von der Schönheit des Frühlings. Bis eine knappe Bemerkung ihres Begleiters sie aufschreckt: »Die Deutschen werden den Krieg gewinnen.« Da ist sie wieder, die Bedrohung, die Niedergeschlagenheit. Aber Hélène wehrt sich: »Nein! Was soll denn aus uns werden, wenn die Deutschen gewinnen?« »Ach was! Nichts wird sich ändern … die Sonne und das Wasser wird es auch weiterhin geben ….« Hélène: »Aber sie lassen nicht alle das Licht und die Sonne genießen!«
Mit dem Eintrag über den Besuch bei Paul Valéry beginnt das Tagebuch von Hélène Berr, Tochter aus wohlsituiertem jüdischen Elternhaus. Zwei Monate später, am Montag, den 8. Juni 1942, muss sie zum ersten Mal den gelben Stern anlegen. Sie trägt ihn mit Trotz, »immer sehr elegant und sehr würdevoll«, um ihre Angst zu überspielen, die Düsternis und Dissonanz der Gegenwart: »Das sind die beiden Seiten des gegenwärtigen Lebens: die Frische, die Schönheit, die Anfänge des Lebens, verkörpert in diesem klaren Morgen; die Barbarei und das Böse, dargestellt durch diesen gelben Stern.«
Paris unter der Okkupation. Über zwei Jahre schreibt Hélène Berr ihre Notizen, unterbrochen durch neun Monate, von denen sich kein Eintrag findet. Sie spielt Geige, hört mit ihren Freunden Beethoven, Schubert, Schumann und Brahms, engagiert sich heimlich für die Betreuung jüdischer Kinder – und sieht dabei in merkwürdig klarer Unbeirrtheit dem immer näherkommenden eigenen Schicksal entgegen. Sie weiß, was ihr droht. Sie beobachtet, wie die Pariser Juden verschleppt werden wie Vieh, hört von den schreck- lichen Zuständen im Lager Drancy. Und sie begreift früher als viele andere französische Juden, dass es den Deutschen nur um eines geht: die Vernichtung.
Hélène Berr notiert, wie die Juden von Paris langsam aber sicher in den Abgrund getrieben werden. Sie bricht in Tränen der Wut aus angesichts der Schikanen. In der Métro wird sie in den letzten, für Juden bestimmten Waggon verwiesen. Die Champs Élysées dürfen Juden nicht mehr überqueren. Kinder zeigen mit dem Finger auf sie: »Äh? Hast du geseh’n? Jude.« Und das in ihrem Paris, in dem ihre Familie seit zweihundert Jahren ansässig ist. Hélène muss das alles aufschreiben. Sie sieht und hört die Deutschen in ihren Knobelbechern auf dem Champ de Mars exerzieren: » ihre Befehle klangen wie Tiergebrüll …« Dabei empfindet sie keinen Hass auf die Deutschen. Sie versucht zu begreifen: »Das ist die Grundlage des Bösen; und die Macht, auf die sich das Regime stützt. Das eigene Denken, die Reaktion des individuellen Gewissens zerstören, das ist der erste Schritt des Nazismus.«
Immer öfter wird Hélène Berr von Todesahnungen heimgesucht. Im Herbst 1943 notiert sie: »Ich vergesse, dass ich ein posthumes Leben führe … Es sind nicht mehr viele Juden in Paris.« Sie ahnt, was ihr bevorsteht, fragt sich erstaunt: »Wieso hast du, obwohl du das wusstest, nichts unternommen, um es zu vermeiden?«
Die Leute sagen ihr manchmal, wie schön sie aussieht. Fotos zeigen ihr hübsches, vor Lebenslust strahlendes Gesicht. Sie ist verliebt in einen »Jungen mit den grauen Augen« – Jean Morawiecki heißt er, für sie sieht er aus wie »ein slawischer Prinz«. Ihm soll die Köchin ihr Tagebuch geben, wenn ihr etwas zustößt.
Nachts holen die Deutschen die Juden bei Razzien aus ihren Wohnungen. Die Berrs verstecken sich deshalb bei Freunden und Bekannten. An einem Märzabend 1944 aber bleiben sie zu Hause, zu müde, um wieder ein Versteck aufzusuchen. In den frühen Morgenstunden werden sie verhaftet und nach Auschwitz deportiert. Die Mutter stirbt schon im folgenden Monat in der Gaskammer, der Vater ein paar Monate später. Hélène wird Anfang November nach Bergen-Belsen verlegt, erkrankt an Typhus und kommt fünf Tage vor der Befreiung des Lagers ums Leben, gerade mal 23 Jahre alt. Ihr Tagebuch hat ihre Nichte Mariette Job Jahrzehnte später, Anfang der 90er-Jahre, bei Hélènes ehemaligem Verlobten gefunden.
hélène berr: pariser tagebuch
Übersetzt von Elisabeth Edl
Hanser, München 2009, 320 S., 21,50 €