Ein Freund ermahnt mich von Zeit zu Zeit, ich solle nicht schon während des Adon Olams, dem traditionellen Rausschmeißer des Morgengebets am Schabbat, meinen Tallit zusammenfalten und in den dafür vorgesehenen Beutel stecken. So war ich in der Regel bei »Irraaahhh«, dem letzten Wort des gesungenen Gebetes, startbereit, konnte aufstehen, Hände schütteln und mich zum Kiddusch begeben. Das sei noch schlimmer, als im Kino das Aufblitzen des Abspanns nicht abzuwarten; dort gibt es ja bekanntlich eine Fraktion der Aufspringer und eine der Sitzenbleiber. Letztere schauen manchmal sogar noch dem Reinigungspersonal bei der Entsorgung der Getränkebecher zu.
Ich empfand den Vergleich immer als ein wenig schräg. »Das machen doch alle so«, wandte ich stets ein. Und dieser Einwand ist stichfest. Dennoch begann ich, die Ermahnung meines Freundes zu beherzigen – was sehr schwer war. Besonders, wenn besagter Freund nicht dabei war, litt ich unter Rückfällen. Wenn es klappte, fuhr ich auch oft ganz gut damit. Manchmal hatte ich aber auch den Verdacht, die anderen Beter glaubten, ich wüsste nicht mehr, wann das Gebet zu Ende sei. Richtig schwierig allerdings wurde es, als ich mich in einer anderen Gemeinde an den Ratschlag meines Freundes hielt.
Dort wollte ich natürlich erst recht nicht unangenehm auffallen. Es darf ja nicht der Eindruck erweckt werden, ich hätte vor zu fliehen, ganz gleich wie gut oder schlecht die Stimme des Vorbeters war. Wer möchte schon als der Mann bekannt sein, der immer zu früh seine Sachen zusammenpackt? Oder am Ende käme gar jemand auf die Idee, ich würde nur wegen des Kidduschs in die eine oder andere Synagoge gehen.
Die kurze Pause vor dem Adon Olam war schwer. Meine Hand wollte gerade hochschnellen und mir den Tallit von den Schultern nehmen, als ich zitternd widerstand und wieder Platz nahm auf meinem Stuhl. Der Vorbeter hob an zu singen. Die altbekannte Melodie des Adon Olam half mir dabei, mich innerlich zu entspannen. Normalerweise singe ich halblaut mit. Eher gedämpft, weil ich vermute, dass niemand mich tatsächlich singen hören will. Nach dem ersten Satz dachte ich: »Respekt, hier lauschen alle dem Vorbeter«, denn ich hörte nur ihn. Kein Gemurmel, keine gedämpften Diskussionen, kein Geknister von Plastiktüten – nur die Stimme des Vorbeters. Eine innere Ruhe machte sich breit, und langsam wich die Anspannung des »Entzugs« von mir.
Die Ruhe hatte ihren Grund: Völlig lautlos waren die anderen Beter längst aufgebrochen und saßen in einem Nebenraum am gedeckten Tisch, wo sie Speis und Trank unter sich aufteilten. Als ich wenige Minuten später hinzukam, mit dem Gefühl eines Schülers, der zu spät in die Klassenarbeit platzt, hatten manche ihren ersten Teller bereits geleert und starrten mich fassungslos an. Krümel fielen von ihren Mundwinkeln, und es wurde fast ebenso still wie beim Adon Olam. »Jemand, der die Gepflogenheiten nicht kennt«, werden sie gedacht haben und aßen weiter. Der Vorbeter schlich sich hinter mir unbemerkt an seinen Platz. Der eigentliche Kiddusch folgte dann auch noch. Man soll eben Alkohol nicht auf leeren Magen trinken. Chajm Guski
kiddusch