von Ingo Way
»Vater der Pille«, diese Bezeichnung kann Carl Djerassi schon längst nicht mehr hören. Wenn überhaupt, dann sei er die Mutter der Pille, sagt der 86-jährige Chemiker. Der Vater sei nämlich Biologe. Die Mutter der Pille, so heißt denn auch die Autobiografie des 1923 in Wien geborenen und nach dem »Anschluss« Österreichs in die USA emigrierten Naturwissenschaftlers und Schriftstellers. Auf dem Buchcover ließ er sich mit rundem Schwangerschaftsbauch abbilden. Anfang der 50er-Jahre hatte Djerassi für das amerikanisch-mexikanische Pharmaunternehmen Syntex die An- tibabypille entwickelt, die ihm Ruhm, einen Lehrstuhl in Stanford, die National Medal of Science und historische Bedeutung einbrachte.
Doch das ist lange vorbei. Was nicht bedeutet, dass sich Djerassi in die Anonymität zurückgezogen hätte. Im Gegenteil. Ende April war er wieder einmal in Deutschland. Die Universität Dortmund verlieh ihm die Ehrendoktorwürde, Djerassis einundzwanzigste – doch die erste, die er nicht für seine naturwissenschaftlichen Leistungen, sondern für sein literarisches Werk erhielt; zudem die erste einer deutschsprachigen Universität. Die Laudatio hielt Djerassis Stanford-Kollege, der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht.
Seit den 80er-Jahren schreibt Djerassi Romane, Kurzgeschichten und Theaterstücke. Das Genre, das er begründete, nennt er selbst »Science-in-Fiction«. Djerassis Bücher handeln von der Welt der Wissenschaft als »Stammeskultur« und den Wissenschaftlern als Mitgliedern dieser Kultur. In der Tradition des angelsächsischen »campus novel« erzählt Djerassi auf sehr unterhaltsame und manchmal urkomische Weise in bislang vier Romanen und sieben Theaterstücken von der Arbeitsweise von Wissenschaftlern, von Intrigen und Eitelkeiten, von »Kampfritualen« – etwa über die Reihenfolge der Au- torennamen bei Publikationen – oder davon, wie man am geschicktesten lügt, um Drittmittel einzutreiben.
Doch Djerassi verhandelt auch ethische Probleme, die sich beispielsweise aus der Verschränkung von Wissenschaft und Industrie auf dem Gebiet der Biotechnologie (in dem Roman NO) oder aus Fragen der künstlichen Befruchtung ergeben (Menachems Same).
Carls Djerassi bezeichnet sich selbst augenzwinkernd als »Nachwuchsschriftsteller«. Dabei blickte er zu Beginn seiner belletristischen Karriere bereits auf eine beachtliche Laufbahn in den Naturwissenschaften zurück. Neben der Erfindung der Pille hat er noch zahlreiche andere wissenschaftliche Meriten. So war er an der Entwicklung des ersten Antihistaminikums gegen Allergien beteiligt, synthetisierte das Hormon Kortison für die medizinische Nutzung und erhielt die National Medal of Technology für neue Verfahren zur Insektenbekämpfung. Felder, auf denen er maßgebliche Beiträge leistete, sagen wahrscheinlich nur Fachleuten etwas: zum Beispiel Steroidsynthese, Massenspektrometrie oder die Nutzung des Circulardichroismus (ein Verfahren zur Messung der Struktur von Molekülen) in der Chemie.
In einem Vortrag bei der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin erklärte Djerassi in der vergangenen Woche, warum er sich für ein zweites Leben als Schriftsteller entschieden hat. Er wollte etwas Eigenes schaffen, erklärte er. Hat er das nicht schon mit der Pille? »Das ist in der Kunst etwas anderes als in der Naturwissenschaft«, sagt Djerassi in seinem gleichzeitig wienerisch und amerikanisch gefärbten Deutsch. »In der Naturwissenschaft geht es nicht um Erfindungen, sondern um Entdeckungen. Die Mendelschen Regeln hätte auch ein anderer Genetiker entdecken können. Aber nur Shakespeare konnte den Hamlet schreiben. Hätte ich den Wirkungsmechanismus der Pille nicht entdeckt, wäre früher oder später irgendein anderer darauf gekommen. Aber meine Romane konnte nur ich so schreiben.«
Einen gleichsam pädagogischen Anspruch hat Djerassi aber auch. Ihn beschäftigte das Problem, dass die hohe Abstraktionsebene in den Naturwissenschaf- ten von Laien kaum noch verstanden wird. Daher scheuten die meisten Menschen die Beschäftigung mit wissenschaftlichen Themen, aus Angst, nichts zu verstehen. »Kaum ein Naturwissenschaftler erklärt sein Fach der Öffentlichkeit«, beklagt Djerassi. »Wenn doch, gilt er schnell als unseriös, so wie der hervorragende Astrophysiker Carl Sagan.« So entschied sich Djerassi, Wissen aus dem engen Kreis des Wissenschaftsbetriebs mit den Mitteln der Belletristik in das öffentliche Bewusstsein »einzuschmuggeln«. »Mich hat gestört, dass Wissenschaftler in der Literatur meist nur als Verrückte dargestellt werden, sei es Frankenstein, seien es Dürrenmatts Physiker«, erklärt Djerassi.
Neuerdings schreibt Djerassi Dialoge über ethische Probleme der Wissenschaft wie Stammzellforschung oder Reproduktionstechnologie für den Gebrauch an Schulen. »Es gibt heute kein dialogisches Schreiben in der Wissenschaft«, begründet er diesen Schritt. »Ich will damit an die Tradition der Platonischen Dialoge oder die Colloquien des Erasmus anknüpfen.«
Wie kontrovers derartige Themen sind, zeigte sich auch in der Diskussion während der Berliner Veranstaltung mit der früheren grünen Gesundheitsministerin Andrea Fischer. Fischer positionierte sich als Gegnerin der Pränataldiagnostik, mit der eine Behinderung des Fötus erkannt werden kann. In Großbritannien gebe es aufgrund dieser Technologie bereits kaum mehr Kinder mit Down-Syndrom, so Fischer. Die würden nämlich abgetrieben. Djerassi entgegnete, womöglich bewusst provokant, mit der Frage, warum es denn per se wünschenswert sei, dass Kinder mit Down-Syndrom geboren würden: »Fast alle Eltern wünschen sich gesunde Kinder. Warum wollen wir den Eltern die Entscheidung nicht selbst überlassen?«
Djerassi erwies sich in der Diskussion als konsequenter Liberaler. Verbote auf dem Gebiet der Reproduktionsmedizin lösen keine Probleme, davon ist er überzeugt. Es handele sich um ethische Fragen, die der persönlichen Entscheidung des Einzelnen überlassen werden müssten und die den Staat nichts angingen. Es gebe auf ethische Fragen keine Schwarz-Weiß-Antworten. Djerassis Fazit: »Alle wirklichen menschlichen Probleme sind grau. Die schönste Farbe für eine politische Partei wäre grau.«
»Immer Jude«
Carl Djerassi über
jüdische Identität und die Ungeduld des Alters
Herr Djerassi, seit einem Monat haben Sie wieder eine Wohnung in Wien. Was zog Sie zurück in Ihre Geburtsstadt?
djerassi: In Europa kamen nur Berlin oder Wien für mich in Frage. Berlin ist die interessantere Stadt, aber ich kenne fast niemanden hier. Das bedeutet nicht, dass ich nicht neue Leute kennenlernen kann, aber es würde länger dauern. Und ich bin ungeduldig, in meinem Alter.
Sie sprechen sehr gut deutsch. Schreiben Sie auch auf Deutsch?
djerassi: Nur E-Mails. Keine literarischen Texte. Die Übersetzerin Ursula-Maria Mössner ist meine deutsche Stimme. Natürlich lese ich alles genau, mache Änderungsvorschläge, aber gewöhnlich lacht sie nur und meint: »Das sagt man nicht in Deutschland, vielleicht in Wien, aber auch nur im Wien der 30er-Jahre und nicht im Jahr 2009.«
Woran arbeiten Sie zur Zeit?
djerassi: An einem Theaterstück, das von Hannah Arendt, Theodor und Gretel Adorno sowie Walter Benjamin handelt. Darin geht es unter anderem um jüdischen Antisemitismus, etwa die Ressentiments der arrivierten westeuropäischen Juden gegenüber den als schmuddelig empfundenen »Ostjuden«.
Was betrachten Sie als Ihr Hauptwerk?
djerassi: Mein jüngstes Buch ist für mich das wichtigste – intellektuell und psychologisch. »Vier Juden auf dem Parnass«, ein fiktives Gespräch zwischen Benjamin, Adorno, Scholem und Schönberg. Nachdem ich mich so viel mit ihnen beschäftigt habe, glaube ich, diese Leute inzwischen psychologisch und menschlich zu verstehen. Insbesondere interessiert mich die Frage nach ihrer jüdischen Identität.
Worin besteht die?
djerassi: Schwer zu sagen. Bei religiösen Juden ist die Frage mehr oder weniger klar. Ich selber bin überhaupt nicht religiös. Auch die Intellektuellen, über die ich schreibe, waren nicht oder kaum religiös. Sogar der Zionist Scholem ist selten in die Synagoge gegangen, hat samstags einen privaten Salon veranstaltet, anstatt den Schabbat zu heiligen, und hat nicht koscher gegessen.
Was ist der Kern Ihrer eigenen jüdischen Identität?
djerassi: Für mich ist das etwas sehr Dynamisches. In der Hitlerzeit in Wien bedeutete es etwas anderes als für den Emigranten in Amerika, der sich assimilieren wollte; etwas anderes für den erwachsenen Amerikaner. Und es hat wieder etwas ganz anderes bedeutet, als ich angefangen habe, meine europäischen Wurzeln wiederzufinden. Aber immer war ich Jude.
Das Gespräch führte Ingo Way.