von Rabbiner Jacob C. Staub
Wie beginnen wir den Prozeß der Tschuwah, der Umkehr und Reue? Was ruft in uns das Verlangen nach Veränderung hervor? Können wir tief verwurzelte Angewohnheiten und Verhaltensmuster wirklich ändern?
Tschuwah ist während der Hohen Feiertage zu jeder Zeit das Hauptziel. Bereits vier Wochen vor Rosch Haschana, mit Beginn des Monats Elul, beginnen gläubige Juden damit, in Gebeten um Verzeihung (Selichot) zu bitten. Er wird das Schofar geblasen, das in uns das Gefühl für die Dringlichkeit von Tschuwah erwecken soll. An den Jamim Noraim, den Tagen der Ehrfurcht, wird der Ewige als König auf dem Thron geschildert, der über das Schicksal jedes einzelnen von uns urteilt. Dies tut Er auf Grundlage dessen, was wir verdienen. Einfluß haben wir nur, wenn wir Tschuwah tun. Damit können wird einen negativen Urteilsspruch vermeiden. An Jom Kippur fasten wir und schlagen uns an die Brust und bitten um Vergebung. Wir hoffen, daß wir gesühnt haben, bevor die Tore des Gebets bei Sonnenuntergang verschlossen werden, so daß unser Name in das Buch des Lebens eingeschrieben wird.
Wörtlich heißt Tschuwah »Umkehr«. Das Substantiv Tora ist mit dem Verb »einen Pfeil abschießen« (jara) verwandt und bedeutet im Wortsinne »den Schuß lenken”, das heißt nicht vom rechten Pfad (Halacha) abzuweichen. Das Bild besagt, daß wir, wenn wir sündigen, vom vorgeschriebenen Weg abkommen. Wenn wir Tschuwah tun, wollen wir auf diesen Weg zurückkehren. Wir bitten diejenigen um Vergebung, die wir verletzt haben. Und wir geloben, es nicht wieder zu tun. Zudem bitten wir Gott um Vergebung, denn wir haben auf vielerlei Weise nicht in Übereinstimmung mit dem göttlichen Willen gelebt.
Es ist bemerkenswert, welch zentrale Rolle die Tschuwah im Gedankengebäude der jüdischen Tradition einnimmt. Darin spiegelt sich die Überzeugung, daß eine wesentliche persönliche Veränderung tatsächlich möglich ist und daß jeder von uns fähig ist, sein Leben in eine andere Richtung zu lenken. Unsere messianische Hoffnung, die Vision einer Welt, in der Frieden, Gerechtigkeit und Anteilnahme herrschen, gründet darauf.
Vielen von uns fällt es schwer, zu glauben, daß Tschuwah möglich ist. Wir besuchen an den Hohen Feiertagen den Gottesdienst und sprechen die Worte der Litur-
gie. Unser Wunsch nach Veränderung ist aufrichtig. Wir meinen es ernst, wenn wir um Vergebung bitten. Doch wir erinnern uns auch daran, daß wir das Jahr zuvor dieselben Emotionen und dieselben Absichten hatten – wie im Jahr davor, Jahr um Jahr. So einfach ist es nicht. Der Wille, Tschuwah zu tun, reicht nicht aus, um eine wirkliche Veränderung herbeizuführen. Wir werden immer noch wütend und verlieren die Beherrschung. Wir vergessen immer noch, jeden Tag zu beten. Immer noch sind wir gefangen in den Zerstreuungen des Alltags und vergessen, das Gute in unserem Leben zu würdigen. Wir wollen unsere Eltern, unsere Ehepartner, Kinder, Freunde und Angestellten besser behandeln. Wir wünschen, wir hätten mehr Zeit, um denen zu helfen, die in Not sind. Doch wenn wir an Rosch Haschana in der Gegenwart Gottes stehen, wissen wir, daß Gott weiß, daß wir nicht die Menschen sind, die wir gern wären.
Vielen von uns bereitet die Vorstellung Schwierigkeiten, daß unser Schicksal für das kommende Jahr von einem Gott gelenkt wird, der im wahrsten Sinn des Wortes Buch führt über unser Verhalten und entsprechend belohnt und bestraft. Zu viele Beispiele sind uns bekannt, wo die Gerechten leiden und es den Bösen gutgeht. Auch wenn wir glauben, hinter allem verberge sich ein geheimer Zweck, müssen wir vorsichtig sein. Wir dürfen uns nicht anmaßen, wir verstünden den geheimnisvollen göttlichen Willen. Sonst enden wir damit, daß wir die Ungerechtigkeit vermehren, indem wir dem unschuldigen Opfer eines zufälligen Mißgeschicks Schuld zuweisen.
Tatsächlich jedoch enthüllt eine genaue Lektüre der Liturgie der Tage der Ehrfurcht, daß unsere Vorfahren in ihrer Weisheit mit denselben Anfechtungen konfrontiert waren. Von diesen Anfechtungen handeln die Gebete, die sie schrieben und die sie uns überlieferten.
Immer wieder in der Liturgie der Hohen Feiertage beichten wir vor Gott, daß wir nicht würdig sind, daß wir Sünder sind. Und wir bitten, daß uns vergeben werden sollte – nicht aufgrund unseres eigenen Verdienstes, sondern aufgrund des Verdienstes unserer Vorfahren (Zechut Awot) oder aufgrund von Gottes eigenem Ansehen. Wir beten, Gott möge vom Thron der Gerechtigkeit zum Thron der Gnade wechseln. Denn wir können nur dann überleben, wenn uns nicht zuteil wird, was wir verdienen. Die Worte des Gebetes »Unetaneh Tokef« zum Beispiel führen uns die Zerbrechlichkeit und Ungewißheit des Lebens deutlich vor Augen. Dabei geht es darum, auf wie viele Arten ein Mensch unerwartet und unverdient sterben kann: durch das Feuer, durch das Schwert. Und Jahr für Jahr wechselt Gott in unserem liturgischen Zyklus von der Gerechtigkeit zur Gnade, worin sich die Realität unseres alltäglichen Leben widerspiegelt. Wir alle sind die Empfänger von Segnungen, die wir nicht verdient haben.
Die unerhörte Botschaft dieser Zeit der Tschuwah besteht also darin, daß wir nicht in Kontrolle sind – eine Boschaft, die viele von uns äußerst ungern vernehmen. Wir glauben, daß wir ein langes Leben haben werden, wenn wir hart arbeiten und auf unsere Gesundheit achten. Manchmal trifft das zu, manchmal aber auch nicht. Und oft geben wir uns selbst die Schuld an einem Unglück, weil wir davon ausgehen, daß wir es durch ein anderes Verhalten hätten vermeiden können. Wir denken so, statt den erschreckenden Gedanken zuzulassen, daß die Dinge wahllos und zufällig geschehen. Die Botschaft unserer Gebete an diesen Tagen besteht nicht darin, daß Tschuwah uns immun macht gegen Mikroben oder krebserregende Substanzen in der Umwelt. Alles, was unsere Liturgie uns verspricht, ist: Gott liebt uns und behandelt uns mit Anteilnahme, ob wir es verdienen oder nicht.
Es gibt einen rabbinischen Midrasch, der davon ausgeht, daß Gottes Offenbarung am Berg Sinai nicht mit dem Empfang der Tora durch Moses und den Israeliten vor über 3.000 Jahren zu Ende war. Vielmehr, so lehren die Rabbiner, ruft uns die Göttliche Stimme vom Berg Sinai an jedem Tag, in jedem Augenblick. Und was sagt diese Stimme? »Kehrt um, kehrt um, meine unfolgsamen Kinder. Kehrt zu Mir zurück.« Die Stimme ruft jeden von uns an jeden Tag, ob wir es verdienen oder nicht. Das hier geschilderte Bild Gottes ist das von Eltern – ein liebevoller Vater ist bereit zu vergeben und möchte, daß wir zu ihm zurückkehren, unter die schützenden Flüge der Schechina.
Im 20. Jahrhundert ergänzte der chassidische Lehrer Reb Arele Roth diesen Midrasch und lehrte, daß der Ruf andauernd und ewig ertönt. Das einzige, was variiert, ist die Fähigkeit eines jeden von uns, den Ruf zu vernehmen. Wenn wir bereit sind, Gottes Ruf zu hören, hören wir ihn. Und wenn wir ihn hören, sehnen wir uns nach der Rückkehr in die göttliche Umarmung. Das ist der Ursprung der Tschuwah und ihrer Macht. Wir sind nicht in Kontrolle. Es wird von uns nicht verlangt, alle unsere Verirrungen zu korrigieren, bevor wir uns Gott nähern dürfen. Alles, was wir tun müssen, ist, innezuhalten und uns der Anwesenheit Gottes und Gottes Ruf bewußt zu werden. Gott hat uns bereits vergeben. Jetzt liegt es an uns, Gottes Annäherung anzunehmen und darauf zu antworten.
So betrachtet, beginnt Tschuwah mit dem Bewußtsein, daß Gott mit uns ist, wenn wir Gott zulassen. Wenn wir die Stimme hören, die uns vom Berg Sinai ruft, ergeben sich auch die anderen Aspekte der Tschuwa.
Wie können wir dieses Wissen in dieser Woche anwenden? Wenn wir uns beim Beten unserer Schwächen bewußt werden, brauchen wir uns nicht schuldig und unwürdig zu fühlen, als Versager beim großen Vorhaben Tschuwah. Stattdessen sollten wir versuchen, uns vom Standpunkt des Ewigen zu sehen, der immer da ist und uns viel gnädiger beurteilt als wir uns selbst. Auch wenn wir vergessen, daß wir Menschen sind. Gott weiß es. Wenn wir die göttliche Gegenwart spüren und den Ruf der Stimme vom Berg Sinai hören, sind wir vielleicht in der Lage, uns unsere Schwächen zu verzeihen. Dann können wir unsere Herzen der göttlichen Liebe und der göttlichen Anteilnahme öffnen, die immer da sind, wenn wir sie zulassen.
Rabbi Jacob J. Staub ist Professor für jüdische Philosophie und Spiritualität am Reconstructionist Rabbinical College in Philadelphia (Pennsylvania).