Ich wachte mit kratzendem Hals und verstopfter Nase auf. »Es hat mich erwischt!«, dachte ich erschrocken, und das ausgerechnet heute. Es war der Morgen von Erew Rosch Haschana, und ich war krank. Ich machte einen Corona-Schnelltest: negativ. Kurz keimte in mir die Hoffnung, doch noch zu dem opulenten Festessen gehen zu können, für das ich mich angemeldet und nicht gerade wenig Geld bezahlt hatte. Schnell gestand ich mir aber ein, in diesem Zustand eine Zumutung zu sein, auch wenn es nur eine einfache Erkältung war. Wohl oder übel musste ich das Neujahrsfest also zu Hause verbringen.
Ich kuschelte mich in eine Decke, trank eine Heiße Zitrone und sinnierte über mein Schicksal: Eigentlich war mein Verhältnis zu Rosch Haschana schon immer höchst ambivalent. Äpfel, Honig, Datteln und was es sonst noch so an süßen Köstlichkeiten gibt, die an dem Feiertag gegessen werden – ich vertrage das meiste davon gar nicht! Ich habe nämlich eine Fruktosemalabsorption, was bedeutet, dass mein Körper Fruchtzucker nur ungenügend verdauen kann.
Äpfel Nun ist es mit dieser Disposition etwas komplizierter, als man auf den ersten Blick erwarten würde: Während Früchte wie Bananen oder Erdbeeren wegen ihres hohen Glukoseanteils kein Problem sind, stellen mich andere vor größere Herausforderungen. Äpfel zum Beispiel. Und auf der Skala der unverträglichen Lebensmittel ganz oben: Honig und Datteln. Ein fruktosefreies Rosch Haschana? Undenkbar! Für Menschen mit meiner Unverträglichkeit könnte dieser Feiertag wohl kaum unpassender sein.
Während ich mich in mein Ungerechtigkeitsgefühl hineinsteigerte, bekam ich den ersten Neujahrsgruß auf mein Handy. Eine Freundin schrieb mir »Schana towa u’metuka« zusammen mit Apfel- und Honig-Emoji. Für mich fühlte es sich an wie Spott! Ich beschwichtigte mich selbst – »sie weiß ja nichts von deiner Situation« – und schickte ihr ein einfaches »Schana towa« zurück.
Honig Erneut vibrierte mein Handy: Ein Bekannter hatte mir ein kitschiges Video geschickt, in dem Apfelstücke durch einen Honig-Wasserfall schweben und am Ende ein süßes neues Jahr gewünscht wird. Ich ignorierte die Nachricht und schniefte empört in mein Taschentuch. Mein Handy stand nicht mehr still: Ein Rosch-Haschana-Gruß nach dem anderen trudelte bei mir ein, und selbst nichtjüdische Freunde wünschten mir für 5783 alles Gute. Keine dieser Nachrichten kam dabei ohne die scheinbar obligatorische Abbildung von Lebensmitteln aus, die ich als Fruktosemalabsorptionspatient gar nicht essen kann.
Schließlich platzte mir der Kragen, und ich keifte gegen einen willkürlich herausgepickten Apfel-und-Honig-Grüßer: »Schon mal darüber nachgedacht, dass manche Menschen davon Bauchschmerzen bekommen?!?« Ich kann mir geradezu ausmalen, wie die Person am anderen Ende der Leitung ihre Taktlosigkeit reflektierte. Nach ein paar Minuten schickte sie ein trauriges Emoji, entschuldigte sich und schrieb: »Aber immerhin, für dich bleibt ja noch der Fischkopf übrig!«