Der Reformer
Zum Tod des russischen Ökonomen Jegor Gaidar
Die Trauerminute im russischen Parlament blieb Jegor Gaidar verwehrt. Die Mehrheit der Abgeordneten lehnte den Antrag ab. Auch dies zeigt, wie umstritten der »Vater der russischen Marktwirtschaft« in der russischen Öffentlichkeit bis heute ist. Gaidar verstarb in der Nacht vom 15. auf den 16. Dezember im Alter von 53 Jahren an den Folgen eines Herzinfarkts. Neben dem bereits 2007 verstorbenen Boris Jelzin war er der zweite Politiker, der die Perestroika-Zeit maßgeblich prägte. Doch während Jelzins Handeln überwiegend positiv beurteilt wurde, fällt die historische Bewertung Gaidars bisher nicht so wohlwollend aus.
Gaidars politische Karriere ist eng mit Jelzin verbunden: 1991 berief der Präsident den damals 35 Jahre alten, hochbegabten Ökonomen in sein Kabinett. Als Wirtschafts- und Finanzminister sollte Gaidar die erstarrte sowjetische Planwirtschaft in eine Marktwirtschaft verwandeln. Eine gewaltige Aufgabe. Und eine undankbare Aufgabe, weil sie vielen Menschen ungeheure Opfer abverlangen sollte. Möglicherweise legte Machtpolitiker Jelzin sie gerade deshalb dem jungen und politisch unerfahrenen Wissenschaftler auf die Schultern.
1992 setzte Gaidar alle Reformen um, die er zuvor mit seinen Vertrauten entworfen hatte: Einzelhandelspreise und russischer Außenhandel wurden liberalisiert, das Staatseigentum zum Großteil privatisiert. Zwar füllten schnell Importprodukte die zuvor leeren Regale. Zugleich schossen aber die Preise in astronomische Höhen. Die Folge: Ersparnisse und Renten waren über Nacht wertlos. 49 Millionen Russen, rund ein Drittel der Gesamtbevölkerung, lebten unterhalb der Armutsgrenze.
»Ein großer Teil der Bevölkerung liebt ihn nicht oder hasst ihn sogar«, urteilte die Tageszeitung Wedomosti. Umso mehr ist die politische und wirtschaftliche Elite in diesen Tagen bemüht, die positive Bedeutung Gaidars für die Entstehung des modernen Russland zu betonen. Gaidar, dessen beide Großmütter Jüdinnen gewesen seien, habe die Rahmenbedingungen für privates Unternehmertum geschaffen; erst dadurch hätten viele Geschäftsleute erfolgreich werden können, heißt es im Nachruf des Russischen Jüdischen Kongresses (RJK). Auch zum Aufbau der Bürgergesellschaft in Russland, so der RJK, habe Gaidar einen entscheidenden Beitrag geleistet. Gemeint ist das Engagement des Politikers gegen den ersten Tschetschenien-Feldzug und später gegen Rechts-extremismus. Christian Jahn