von Thomas Meyer
Wie wird einer, der sich auf der Flucht vor den Nationalsozialisten 1940 verzweifelt das Leben nahm, zum Popstar der deutschen Intellektuellen? Was steht im Hintergrund, wenn vorn, auf den großen Bühnen, sein Name betont pastoral zelebriert wird und gleichzeitig knallend bunte Buchcover die Käufer in Paris und New York locken sollen? Walter Benjamin ist das wohl extremste Beispiel dessen, was der Gründungsvater der modernen Kulturwissenschaften, Aby Warburg, in einem anderen Zusammenhang einmal als »Nachleben« bezeichnete.
Die Benjamin-Manie begann in den 50er-Jahren, als das Ehepaar Adorno eine zweibändige Auswahl der Schriften des Berliner Philosophen und Kulturkritikers herausbrachte. Abenteuerlich lesen sich die Briefe, die Adorno in diesem Zusammenhang nach Jerusalem an Gershom Scholem schrieb. Man hat den Eindruck, es mit einem sich selbst überschätzenden Vabanquespieler zu tun zu haben. Adorno sollte die Edition bei Suhrkamp herausbringen. Als Peter Suhrkamp Zweifel an dem Projekt äußerte, nahm Adorno über einen Mittelsmann Kontakt mit dem Münchner C.H.-Beck-Verlag auf und unterschrieb dort einen Vertrag. Mittlerweile aber hatte sich Suhrkamp doch zugunsten der Edition entschieden. Nur dank der Kulanz der Münchener konnte ein Skandal vermieden werden.
So ist Benjamins Nachleben von Beginn an ein Stoff für Anekdoten und Legenden. Das hat auch zu tun mit den heftigst reklamierten Besitzansprüchen der Interpreten. Marxist, Zionist, Intellektueller par excellence, Kritiker – Benjamin wurde, was seine jeweiligen Exegeten aus ihm machten. Sogar Rechte nahmen ihn für sich in Anspruch. Ernst Jünger ließ über verschiedene Kanäle an zurückgekehrte Emigranten die Nachricht weiterleiten, man habe im Pariser Stab der Wehrmacht geplant, Benjamin als deutschen Sanitäter zu verkleiden, um ihn so zu retten. Carl Schmitt, ehemals Kronjurist des Dritten Reiches, ver- sandte 1968 zahlreiche Kopien und Abschriften des einzigen Briefes von Benjamin an ihn, datiert vom Dezember 1930. Mit großem Gespür für den effektvollen Auftritt war es dann der Berliner Judaist Jacob Taubes, der Benjamin endgültig der Wissenschaft und dem Pop in Deutschland auslieferte. Das Briefchen an Schmitt, die Liebe zum »Gefährlichen« – Taubes verwendete dabei die beliebten militärischen Metaphern, die so viele vor der Bundeswehr geflohene Schwaben gerne in ihre Berliner Bücher aufnahmen.
Benjamin selbst machte es allerdings seinen unterschiedlichen Epigonen leicht. Seine Sprachmagie ließ es um viele geschehen: Dunkel, oder wie man heute sagt, »anschlussfähig«, und natürlich »jüdisch« oder das, was man dafür hielt.
Diese permanente Überhöhung von Benjamins wichtigen Texten hat zur Folge, dass seine wirkliche Bedeutung für Philosophie, Kulturkritik und modernes jüdisches Denken kaum noch realistisch eingeschätzt wurde und wird. Die Sehnsucht, einem Opfer der Schoa Genugtuung verschaffen zu wollen, gebar ganze Sonderforschungsbereiche als Lordsiegelbewahrer eines vermeintlich vergessenen und wieder ins Gedächtnis zu rufenden Denkens. Eine maßlose Übertreibung. Die Konzentration auf Benjamin, ähnlich wie die auf Hannah Arendt, ließ derweil andere, mindestens ebenso wichtige Figuren der deutsch-jüdischen Ideengeschichte völlig untergehen.
Jetzt zeichnet sich möglicherweise ein Wandel zum Besseren ab. Vor wenigen Wochen wurde in der Berliner Akademie der Künste der erste Band einer neuen historisch-kritischen Benjamin-Ausgabe im Suhrkamp-Verlag der Öffentlichkeit vorgestellt. Der grau-gediegene Einband des Buchs wirkte an dem lauen Sommerabend wie ein Aufruf, doch bitte endlich wieder gedeckte Töne zu tragen. Gemessen am Theoriewirbel, der mit Benjamin noch immer erzeugt wird, waren die Beteiligten auffällig zurückhaltend gestimmt, vielleicht, um nicht diejenigen zu wecken, die immer noch mit Benjamin die ganze Welt erklären wollen.
Die neue Ausgabe, deren erster Band nahezu jede Emphase glücklich vermeidet, wird vor allem eines zeigen: Benjamin braucht die Danaergeschenke der Nachgeborenen nicht. Seine zahlreichen Irrtümer und die Schönheiten seines Werkes sollten künftig vor allem eines bewirken, was hierzulande nicht nur während der Fußballeuropameisterschaft selten ist: Nüchternheit.