Künstliche Befruchtung

Der Natur nachgeholfen

von Schimon Staszewski

»Und Abraham fiel auf sein Gesicht und lachte, und sprach in seinem Herzen: Einem Hundertjährigem soll geboren werden? Und Sara die Neunzigjährige soll gebären?«
(1. Buch Moses 17,17)

Anfang des Monats berichteten die Me-
dien über die Geburt eines gesunden Kindes im bayerischen Aschaffenburg. Eigentlich nichts Besonderes. Außergewöhnlich war nur der Umstand, dass die Mutter 64 Jahre alt und somit die bislang älteste Spätgebärende in Deutschland ist.
In den vergangenen Jahren wurden auch in anderen Staaten Frauen über 60 er-
folgreich entbunden: 2003 in Indien, 2004 in Israel, 2005 in Rumänien und 2006 in Spanien, in der Türkei und in England. In allen Fällen kam die Schwangerschaft durch In-vitro-Fertilisation (künstliche Be-
fruchtung), verbunden mit einer Eizellenspende, zustande.
Gleich nach Bekanntwerden der Entbindung in der Klinik am Ziegelberg in Aschaffenburg wurde von vielen Seiten Empörung und Verwunderung geäußert. Im Mittelpunkt der meist kritischen Stimmen standen in erster Linie das hohe Alter der Mutter (Bayerns Familienministerin Christa Stewens: »Die Natur hat sich schon etwas dabei gedacht, dass man ab einem bestimmten Alter keine Kinder mehr kriegen kann.«) und die Eizellenspende, die in Deutschland nicht erlaubt ist.
Die Aschaffenburger Spätgebärende hatte sich deshalb, wie viele andere Frauen aus Deutschland, im Ausland die zuvor mit dem Samen ihres Ehemannes befruchtete Eizelle einer anderen Frau einsetzen lassen, nachdem sie in früheren Jahren schon mehrere Frühgeburten erlitten hatte.
Bemerkenswert ist, dass bedingt durch den Trend zur »späten Geburt« die Nachfrage nach Eizellen kontinuierlich steigt. Zwar sind etwa 98 Prozent aller Schwangeren in Deutschland unter 40 Jahre alt und die Eizellenspende noch kein Massenphänomen, trotzdem ist die Eizellenspende Teil eines expandierenden Marktes ge-
worden. Viele Frauen und Paare nehmen über viele Jahre Mühen, gesundheitliche Belastungen und hohe Kosten von wiederholten Anläufen auf sich, um mithilfe der künstlichen Befruchtung, einschließlich In-vitro-Fertilisation eine Schwangerschaft zu erzielen.
Die uneinheitlichen rechtlichen Rahmenbedingungen in Europa haben dazu geführt, dass es einen regen Handel mit Eizellen gibt, wobei vor allem arme Frauen aus Osteuropa mit finanziellen Zuwendungen dazu gebracht werden, oft ohne Rücksicht auf gesundheitliche und psychische Belastungen, ihre Eizellen fremden Menschen zur Verfügung zu stellen.
Welche halachischen Erwägungen gibt es dazu? Die jüdische Ethik beruht auf der Tora, dem Talmud, Kodifizierungen des jüdischen Rechts, wie der Mischne Tora aus dem 11. Jahrhundert und dem Schulchan Aruch aus dem 16. Jahrhundert, so-
wie auf den zahlreichen rabbinischen Entscheidungen und Schriften der vergangenen Jahrhunderte. Sie funktioniert aber nicht als philosophisch-deduktive Methode, bei der einige übergeordnete Theorien auf alle Fälle gleich angewendet werden. Vielmehr ist sie eine immer hochaktuelle induktive »Fall-zu-Fall-Ethik«, bei der spezifische Umstände jedes Einzelfalls analysiert und anhand von Präzedenzfällen be-
handelt werden. Festlegungen geschehen seit talmudischen Zeiten als Konsens oder Mehrheitsentscheidungen. Durch neue wissenschaftliche Entdeckungen und ge-
sellschaftliche Entwicklungen kommt es naturgemäß zu immer neuen Erkenntnissen und Fragestellungen. Wie sind diese nun im Lichte des jüdischen Religionsgesetzes zu bewerten und was für Konsequenzen ergeben sich daraus?
Um diese Fragen zu beantworten, ist ein vollständiges Verständnis der medizinisch-wissenschaftlichen Hintergründe und Fakten sowie eine Kenntnis der relevanten halachischen Texte erforderlich.
Bei der In-vitro-Fertilisation werden Frauen mit Hormonen behandelt, sodass sie 15 bis 20 Eier im entsprechenden Zyk-
lus produzieren. Die Eier werden entnommen und befruchtet. Es werden aber nur ein bis drei befruchtete Eier oder Embryonen der Frau eingepflanzt.
Zu Beginn waren die Rabbiner, die sich mit der Zulässigkeit der In-vitro-Fertilisation befassten, eher ablehnend. Viele verschiedene Probleme mussten diskutiert und abgewogen werden. Zunächst standen Fragen der Gefährdung der Frau und die erhöhte Gefahr von Fehlgeburten und Missbildungen durch die In-vitro-Fertilisation im Vordergrund. In der Tora wird zudem ausdrücklich ein Verbot ausgesprochen, Samen zu vernichten. Sollte dies auch für Eizellen gelten?
Es musste auch entschieden werden, ob In-vitro-Fertilisation eine Form verbotener sexueller Beziehungen sei oder unter be-
stimmten Umständen bei Ei- und Samenspenden von Ehebruch gesprochen werden könnte. Daneben waren Fragen von Mutter- und Vaterschaft zu klären, also Fragen mit erheblicher Bedeutung für verwandtschaftliche Beziehungen, Erbrecht und der Zugehörigkeit zur Gruppe der Kohanim.
Gespendete Eizellen werden für Frauen verwendet, die keine befruchtungsfähigen Eier produzieren können. Ihnen wird mindestens ein Embryo eingepflanzt. In solchen Fällen stellte sich die Frage, wer im halachischen Sinne die Mutter des Kindes sei; die Frau, die das Kind austrägt, oder die genetische »Mutter«, von der die Eizelle stammt. Die Antwort auf diese Frage ist außerordentlich kompliziert und hat im Judentum erhebliche Konsequenzen, da hier die ethnische und religiöse Zugehörigkeit eines Kindes durch die Mutter be-
stimmt wird. Jude ist demnach nur das Kind einer jüdischen Mutter.
Wer ist also im Sinne der Halacha die Mutter des Kindes? Die halachischen Au-
toritäten kamen dabei zu vier verschiedenen Ergebnissen. Eine Meinung ist, dass die Eispenderin rechtlich als Mutter anzusehen sei. Im Falle einer nichtjüdischen Spenderin wäre das Kind dann kein Jude. Die Mehrheit der Rabbiner ist allerdings der Auffassung, dass Mutter diejenige sei, die das Kind austrägt und gebiert. Aber auch die Möglichkeiten, dass ein Kind zwei Mütter oder im rechtlichen Sinne keine Mutter hätte, werden mit allen damit verbundenen Konsequenzen vertreten.
Letztlich wurden aber Eispende und In-vitro-Fertilisation unter bestimmten Be-
dingungen trotz weiterer Bedenken ausschließlich für die Behandlung von Infertilität (Unfruchtbarkeit) gestattet. Andere mögliche Motive sind mit der Halacha nicht vereinbar.
In Bezug auf die Eispende sollten sich dabei unbedingt Spenderin und Empfängerin kennen, um Verwirrungen über Fa-
milienverhältnisse und einer Gefahr ei-
nes versehentlichen Inzests vorzubeugen. Die Eispende sollte altruistischen Motiven entspringen. Diese Einschränkungen würden auch ein Hindernis für die Ausbeutung von Frauen darstellen, die nur aus Armut Eier spenden.
Ausschlaggebend für diese Entscheidungen war, dass jüdische Gelehrte sich seit jeher ausführlich mit Fragen von Unfruchtbarkeit und dem Leid der betroffenen Frauen auseinandergesetzt haben. Die Realität von unerfülltem Kinderwunsch und somit Fragen weiblicher Identität und damit zusammenhängenden Folgen für ein erfülltes Leben sowie die Konsequenzen für das »Familienglück« und den Zusammenhalt von Ehen, aber auch die Beschäftigung mit den überlieferten Schriften hatten die Rabbiner sensibilisiert. So wird schon in der Tora die Verzweiflung von betroffenen Frauen in den Erzählungen über die jüdischen Stammmütter Sara, Riwka und Rachel eindrucksvoll dargestellt.
Das Alter der Frau spielt in diesem Zu-
sammenhang keine entscheidende Rolle, falls sie nicht durch eine Schwangerschaft einer ernsthaften gesundheitlichen Gefahr ausgesetzt wäre. Schon die talmudischen Weisen hatten ein sehr positives Verhältnis zum Fortschritt von Wissenschaft und Medizin und gestatten die Nutzung dieser Fortschritte, soweit sie nicht aus halachischen Gründen verboten sind.

Der Autor ist praktischer Arzt in Langen/
Hessen.

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