Es sind Eindrücke, die sie nie vergessen werden. Zum Beispiel der Knall einer Bombe, die Menschen in Tausend Stücke zerrissen hat. Menschen, die solche Extremerfahrungen gemacht haben, können dadurch krank werden. Sie können kaum schlafen, leiden an Todesangst oder sind depressiv. Diese Symptome haben einen Namen: Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Was früher als »Kriegszittern« oder »Thousands Yards Stare« bezeichnet wurde, ist heute ein Forschungsthema der Psychiatrie. Als einer der Entdecker gilt Hermann Oppenheim, der am 1. Januar 1858 in Warburg/Westfalen geboren wurde. Sein Vater Juda war Lehrer, Prediger und Seelsorger der kleinen jüdischen Gemeinde und leitete eine jüdische Elementarschule, die auch Hermann besuchte.
»neurose« als krankheit Von 1877 bis 1882 studierte Oppenheim in Göttingen und Bonn Medizin und verfasste 1880 eine preisgekrönte Doktorarbeit. Nach einem kurzen Exkurs in Psychiatrie an der Maison de Santé in Berlin-Schöneberg, wechselte er 1883 als Assistent in die neurologische Abteilung der Psychiatrischen Klinik der Charité unter Leitung des Nervenarztes Carl Westphal (1833-1890). Ein Forschungsschwerpunkt Oppenheims war die Auseinandersetzung mit den Thesen des französischen Arztes Jean-Martin Charcot (1825-1893) zu psychischen Unfallfolgen. Charcot war der Ansicht, dass Krankheitserscheinungen nach Eisenbahnunfäl- len auf dem Boden der Hysterie entstehen, aber Oppenheim zweifelte dies an. In einem Vortrag von 1888, »Wie sind diejenigen Fälle von Neurasthenie aufzufassen, welche sich nach Erschütterung des Rückenmarks, insbesondere Eisenbahnunfällen, entwickeln?«, verwendete er erstmals zur Bezeichnung von Auffälligkeiten wie Zittern, Lähmungen, Angst etc. den Begriff der »traumatischen Neurose« als eigenständiges Krankheitsbild.
privatpraxis in berlin 1886 wurde Oppenheim die Habilitation für das Fach Nervenkrankheiten und Psychiatrie erteilt. Sein Lebensziel war eine Professur an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. Sein erstes Gesuch wurde jedoch bereits 1891 abgelehnt, sodass er im Sommer 1891 aus der Charité ausschied und eine Privatklinik mit anatomischem Laboratorium am Schiffbauerdamm 25 in Berlin-Mitte eröffnete. Dort führte er neben seiner Praxistätigkeit Ferienkurse für in- und ausländische Gastärzte durch. Der im Kultusministerium für Berufungsfragen zuständige Friedrich Althoff (1893-1908) hatte ein Gutachten über Oppenheim in Auftrag gegeben. Die Einschätzungen sollten ermitteln, ob Oppenheim eine Titularprofessur – ein Titel ohne Funktionsausübung – zuzugestehen sei. Darin hieß es 1891: »Ich möchte noch zu einiger Vorsicht mahnen und raten, ihm einstweilen höchstens den Titel Professor zu geben.« Und im Januar 1893: »Tüchtig, aber unverschämt; höchstens Titel ›Professor‹, reiche Jüdin geheiratet.«
pyramidenbahnzeichen Ab 1893 lag Oppenheims Haupttätigkeit auf dem Grenzgebiet zwischen Chirurgie und Neurologie. Für seine chirurgischen Kollegen, allen voran Ernst von Bergmann (1836-1907), fertigte er Zeichnungen von Hirntumoren an, die er mit dem Ziel einer möglichst genauen Eingrenzung der Opera- tionsfelder dem Operateur überreichte. Unter Berücksichtigung dieser Verdienste und seiner allge- mein anerkannten Leistungen richtete die medizinische Fakultät im Mai 1901 ein Gesuch um Ernennung Oppenheims zum außerordentlichen Professor an den Kultusminister, wobei das Votum für das Gesuch mit sechs gegen fünf Stimmen relativ knapp ausgefallen war. Als nach neun Monaten eine Antwort noch immer nicht da war, kündigte Oppenheim im Februar 1902 seinen Austritt aus der Fakultät an. Bei diesen Ernennungen haben neben fachlichen Gründen auch die Rangfolge aufgrund des Dienstalters und der jüdische Glaube eine nicht immer explizit genannte Rolle gespielt. Es war nicht auszuschließen, dass beim Ministerium vorgeschlagene, aber unliebsame Privatdozenten unberücksichtigt blieben. Darauf könnte die Passage »tüchtig, aber unverschämt« hindeuten. Oppenheim war 1906 Mitgründer der Gesellschaft deutscher Nervenärzte, der heutigen Deutschen Gesellschaft für Neuro- logie. Von 1912 bis 1916 war er deren Präsident. Seine Literaturliste umfasst mehr als 300 Publikationen, wobei sein Name vor allem durch seine 1902 veröffentlichte Publikation über den Zehenreflex als Pyramidenbahnzeichen (Oppenheim-Zeichen) dauerhaft in die Medizin- geschichte eingegangen ist. Hermann Oppenheim starb vor 90 Jahren, am 22. Mai 1919, in Berlin.