von Jonathan Scheiner
Bei der feierlichen Wiedereröffnung der Synagoge in der Berliner Rykestraße diesen Freitag wird am Dirigentenpult eine Koryphäe der jüdischen Gegenwartsmusik stehen: Samuel Adler, weltweit agierender Dirigent, Schöpfer von mehr als 400 Kompositionen, Autor musikwissenschaftlicher Standardwerke über Chorleitung und Singen vom Blatt, Dozent für Musik und Komposition an hunderten Hochschulen, darunter die School of Sacred Music des Hebrew Union College und die berühmte Juilliard School of Music in New York.
Die Geschichte dieses musikalischen Multitaskers beginnt in Mannheim. Dort wurde Hans Adler, wie er damals noch hieß, am 4. März 1928 geboren. Sein Vater Hugo Chaim Adler arbeitete als Kantor in der liberal ausgerichteten Hauptsynagoge der pfälzischen Stadt. 1939 floh die Familie in die USA und fand in Worcester/Massachusetts ein neues Zuhause. Schon als 13-Jähriger wurde der junge Samuel dort Chorleiter und schrieb seine ersten musikalischen Werke für den Gottesdienst. Dutzende kamen später hinzu. Heute ist Sa-muel Adler der meistgespielte Komponist in amerikanischen Synagogen. Seine Stü-cke B’sha’arei T’filla, Shir Hadash und Shiru Ladonai sind fester Bestandteil des reformierten Gottesdienstritus an Schabbat, so wie seine Anthologie Yamim Noraim an den Hohen Feiertagen.
Aber auch Amerikas nichtjüdische Musikszene kennt Samuel Adler. Der Schüler Paul Hindemiths und Aaron Coplands hat ein gewaltiges Werk weltlicher Musik geschaffen, darunter fünf Opern, sechs Symphonien, zwölf Konzerte, acht Streichquartette, vier Oratorien und Hunderte weiterer Kammer- und Chorwerke, Orchesterstücke und Lieder. Ausgezeichnet wurde Adler für seine Arbeit mit fast allen Ehrungen, die das musikalische Amerika zu vergeben hat, vom Charles Ives Award über den Preis der American Academy for Arts and Letters bis zur Ehrenmedaille der U.S. Army. Als Wehrdienstleistender hatte der damals 22-Jährige ein Armeesymphonieorchester aufgebaut.
Adlers neuestes Großprojekt ist eine 50 CDs umfassende Edition amerikanisch-jüdischer Musik aus 350 Jahren, die, so die Chicago Tribune, »umfassendste musikalische Dokumentation aller Zeiten über jüdisches Leben und Kultur in Amerika.« Das Spektrum der bei Naxos erschienenen Sammlung reicht von liturgischer Musik über Klassik, Theater, Oper, Jazz, Klesmer und Folklore, fast alle in Neu- oder Ersteinspielungen. Zu hören sind bekannte Kompositionen von Leonard Bernstein, Darius Milhaud, Kurt Weill, Hugo Weisgall und Dave Brubeck, aber auch verschollen geglaubte Kompositionen, die Samuel Adler (der selbst auch mit einer CD vertreten ist) wiederentdeckt hat.
Finanziert wurde die Edition vom Milken Archive for American Jewish Music, 1990 von Lowell Milken mit finanzieller Unterstützung seines Bruders Michael Milken gegründet. Letzterer wurde in den 1980er-Jahren berühmt-berüchtigt, als er wegen Insiderhandels zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Michael Milken stand mit Pate für die Figur des skrupellosen Spekulanten Gordon Gecko in Oliver Stones Film Wall Street 1987. Heute lebt er wieder in Freiheit und tut mit seinem Vermögen (laut Forbes Magazine rund 2 Milliarden US-Dollar) gute Werke. Die jüdische Musikwelt weiß es zu schätzen.
Wiederentdeckt hat Samuel Adler auch etliche verloren geglaubte Werke deutscher Synagogalmusik. Bei bei der Eröffnungsfeier am Freitag in der Rykestraße wird er sie dem deutschen Publikum erstmalig live vorstellen. Der Berliner Rundfunkchor singt Werke unter anderen von Louis Lewandowski, Heinrich Schalit und Hugo Adler. Sohn Samuel präsentiert außerdem seine Stücke Adon Olam und Havdalah. Adler und der Rundfunkchor Berlin be-gleiten auch den Gottesdienst am Abend in der Synagoge. Am Samstag, den 1. September um 21 Uhr geben Dirigent und Sängerinnen wie Sänger in der Rykestraße ihr drittes Konzert im Rahmen der »Langen Nacht der Synagogen«.