Essay

Der Missbrauch des Holocaust-Gedenkens

Gedenktage dienen zunehmend als Einfallstore für ein »Gedenken« durch propalästinensische oder besser: israelfeindliche Gruppen, warnt Daniel Neumann

von Daniel Neumann  27.01.2025 16:21 Uhr

Daniel Neumann Foto: Gregor Zielke

Gedenktage dienen zunehmend als Einfallstore für ein »Gedenken« durch propalästinensische oder besser: israelfeindliche Gruppen, warnt Daniel Neumann

von Daniel Neumann  27.01.2025 16:21 Uhr

Mit dem Gedenken kennen wir Juden uns aus. Aus guten Gründen und aus leidvoller Erfahrung. Und zwar nicht nur, weil das »Zachor!« also das »Erinnere Dich!« ein biblischer Imperativ ist. Sondern auch, weil uns die Geschichte reichlich Anlass dazu bietet.

Staatlich verordnete Gedenktage betrachten wir dabei mit gemischten Gefühlen. Denn einerseits wissen wir um die Notwendigkeit, das Erinnern und das Gedenken als staatliche oder gesellschaftliche Rituale zu behaupten. Als Stolpersteine auf den ausgetretenen Pfaden des Alltags. Als Mittel politischer Selbstvergewisserung. Und als regelmäßige Bekräftigung, wer man ist und wer man keinesfalls wieder werden möchte.

Andererseits wissen wir um die Unvollkommenheit des Gedenkens. Die Schwierigkeit, die gesellschaftliche Gleichgültigkeit - wenn auch nur an wenigen Tagen des Jahres - zu durchbrechen. Die Erinnerungsabwehr zu überwinden. Das Desinteresse zu erschüttern. Als wäre das nicht schon genug Ambivalenz, beschlich uns mit der Zeit eine düstere Ahnung, die inzwischen zu bitterer Gewissheit geworden ist: das Gedenken an den Holocaust wird missbraucht. Und zwar immer offener und schamloser.

Wie das geschieht? Indem die angeblichen Lehren aus der Diskriminierung, Ausgrenzung, Entwürdigung, Entrechtung, Enthumanisierung, Vertreibung und der industriellen Ermordung der Juden während der Nazizeit erst universalisiert werden, um sie anschließend gegen Israel, also den jüdischen Staat, also Juden als Kollektiv in Stellung zu bringen.

Neu ist das nicht. Schließlich wurde auch in der Vergangenheit immer mal wieder versucht, die spezifisch jüdische Erfahrung auf andere Minderheiten zu übertragen. Indem man etwa behauptete, die Muslime seien die neuen Juden. Was sowohl historisch wie von den Größenordnungen und den Ursachen völlig abstrus ist.

Inzwischen wurde die Methode allerdings noch einmal verfeinert. Denn nun gibt man vor, die Lehren aus der Geschichte des Holocaust zu ziehen, die da lauten: nie wieder Entrechtung, Entmenschlichung, Entwürdigung von Menschen durch ein faschistisches System. Und nie wieder Ermordung, Vernichtung und Genozid! Nie wieder! Was bis zu diesem Punkt noch als »Lehren aus der Geschichte« durchgeht, wird nun in einem perversen Taschenspielertrick missbraucht.

Denn wer ist das heutige Paradebeispiel für all die Übel, die einst Nazi-Deutschland verkörperte? Wer verletzt das humanitäre Völkerrecht wie kein anderer Staat? Wer ist der Kriegsverbrecher par excellence? Und wer begeht Völkermord und Genozid? China? Russland? Iran? Nordkorea? Sudan? Jemen? Syrien?

Falsch. Es ist Israel! Jedenfalls in den Fieberträumen der Israelhasser. Und in den Psychosen der Antizionisten. In ihrer perversen und infamen Logik ist Israel das neue Nazi-Deutschland. Die Zionisten sind die neuen Nazis. Und die Palästinenser sind die neuen Juden. Und was eignet sich wohl besser, um Israel einerseits zu dämonisieren und andererseits politische und gesellschaftliche Handlungsimperative einzufordern und sich selbst dabei geprägt durch die Lehren der Geschichte und mit blütenreinem Gewissen zu präsentieren? Was eignet sich besser, die heutigen Zionisten, die zufällig auch Juden sind, anzugreifen, während man der toten Juden von damals zu gedenken vorgibt? Es sind die Tage, die dem Gedenken an den Holocaust, an den industriellen Massenmord an den Juden und an Ausschwitz gewidmet sind.

So wie das Gedenken zur Reichspogromnacht vom 9. November 1938. Und so wie der Holocaustgedenktag am 27. Januar, der an die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz im Jahr 1945 erinnert. Es sind genau diese Gedenktage, die zunehmend als Einfallstore für ein »Gedenken« durch propalästinensische oder besser: antiisraelische Gruppen dienen. Als Versuche, das Gedenken zu kapern und es auf die Palästinenser zu übertragen. Und die heutige Situation der Palästinenser in Gaza oder der Westbank mit der damaligen Situation der Juden in Nazi-Deutschland zu vergleichen.

Da heißt es dann: »Nie wieder gilt für alle« oder »Völkermord damals gedenken. Völkermord heute verhindern« oder »Holocaust Gedenken heißt gegen Genozid kämpfen« und so weiter und so fort. Was nobel klingt, ist es bei näherem Hinsehen keineswegs. Tatsächlich ist es eine perverse Verzerrung von Vergangenheit und Gegenwart. Eine bewusste Täter-Opfer-Umkehr. Und eine gezielte Relativierung des Holocaust.

Nicht überraschend hat gerade erst der Präsident Irlands, Michael Higgins, eine Veranstaltung zum Holocaust-Gedenken missbraucht, um Israel öffentlich anzuklagen. Und jüdische Teilnehmer, die lautstark protestiert haben, wurden gewaltsam aus dem Saal entfernt.
Das Gedenken wegen des Massenmordes an den Juden wird gekapert, missbraucht und gegen Juden in Stellung gebracht.

Lesen Sie auch

Wenn dem nicht schleunigst Einhalt geboten wird, werden die Folgen nicht nur Juden treffen. Denn Realitätsverzerrung, Geschichtsklitterung, Täter-Opfer-Umkehr, Holocaust-Relativierung, die Demontage des Selbstverständnisses und der Hass, der im Gewand der Sorge und Fürsorge daherkommt, werden nicht nur dem Gedenken nachhaltig schaden. Weshalb diesem Treiben schleunigst Einhalt geboten werden muss. Bevor es zu spät ist!

Der Autor ist Jurist und Vorsitzender des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen.

Daniel Neumann

Darmstadt: Diesmal ließ die Kirche Taten folgen

Nach dem antisemitischen Eklat in der Michaelsgemeinde greift die Evangelische Landeskirche entschlossen durch. Das verdient Anerkennung

von Daniel Neumann  12.03.2025

Sabine Brandes

Die stärksten Menschen der Welt

Die ehemaligen Geiseln Eli Sharabi und Yarden Bibas sind durch die Hölle gegangen. Kaum sind sie frei, setzen sie sich unermüdlich für die Rückkehr ihrer »Brüder und Schwestern« ein

von Sabine Brandes  12.03.2025

Meinung

An Purim wird »We will dance again« wahr

Das Fest zeigt, dass der jüdische Lebenswille ungebrochen ist – trotz der Massaker vom 7. Oktober

von Ruben Gerczikow  12.03.2025

Meinung

Die Gewalt in Syrien war absehbar

Islamisten tun, was sie immer getan haben: massakrieren, verstümmeln, unterdrücken

von Ninve Ermagan  11.03.2025

Meinung

Warum wir über Antisemitismus unter Syrern sprechen müssen

Immer wieder fallen syrische Geflüchtete mit antisemitischer Gewalt auf, zuletzt am Wochenende in München. Um solche Taten künftig zu verhindern, braucht es eine rationale Analyse statt trotziger Reflexe

von Joshua Schultheis  11.03.2025

FDP

Duell der Silberrücken

Die möglichen Bewerber um eine Parteiführung der Liberalen, Marie-Agnes Strack-Zimmermann und Wolfgang Kubicki, beziehen sehr unterschiedlich Position zu Israel

von Ralf Balke  06.03.2025

Kommentar

Harte Haltung gegen die Hamas

Dass US-Präsident Donald Trump sich mit freigelassenen Geiseln traf, ist mehr, als große Teile der israelischen Regierung tun

von Sabine Brandes  06.03.2025

Sophie Albers Ben Chamo

Wo sind deine Frauen, o Israel?

Die Zahl der Ministerinnen und weiblichen Knessetmitglieder ist auf einem Tiefstand. Der Internationale Frauentag wäre für Israel ein guter Zeitpunkt, nach seinen starken Frauen zu suchen

von Sophie Albers Ben Chamo  06.03.2025

Meinung

Auf dem Juko wird gelacht und geweint

Der Jugendkongress fand dieses Jahr mit 400 jungen Jüdinnen und Juden in Hamburg statt. Dort herrschte eine ganz besondere Atmosphäre

von Esther Rubins  05.03.2025