von Tobias Kühn
Manchmal nachts im Schlaf hört Ari Babakhanov Melodien. Weisen aus einem fernen Land. Er steht dann auf, setzt sich an den Tisch und kritzelt sie in ein Notenheft. Am nächsten Morgen führt ihn sein erster Gang zum Schreibtisch. Er liest die Noten, lächelt und greift nach seinem Rubab, einer Langhalslaute. Sie ist sein Lieblingsinstrument und stammt aus der Region um Kaschgar im Osten Turkestans. Er stimmt die fünf Saiten, schaut ins Leere, um besser zu hören, dann hebt er an und spielt die Eingebung der letzten Nacht.
Dein schönes Gesicht entfacht die Eifersucht des Feuers.
Wie oft ich mich auch in dich versenke, jedoch du bist höher.
Ari Babakhanov ist ein Getriebener. Er hat eine große Aufgabe und nicht mehr viel Zeit, denn im Februar wird er 75. Wie viele Jahre werden ihm noch bleiben, dem Hüter des Schaschmaqam, einer alten mittelasiatischen Musiktradition, die er für die Nachwelt bewahren möchte?
Aus seinem müden Gesicht blicken wache Augen, darunter hängen Tränensäcke. Sie lassen ihn traurig aussehen. In seinem dunkelgrauen Alltagsanzug und unter der dünnen schwarzen Wollmütze, deren Rand mehrfach umgeschlagen ist, erinnert Babakhanov an die Schach und Backgammon spielenden alten Männer, die in Städten südlicher Länder die Plätze bevölkern. In Leipzig-Connewitz, wo Babakhanov seit sechs Jahren lebt, prägen nicht Männer wie er das Stadtbild, sondern bunte Graffitis und junge Leute. Dass ein großer Meister unter ihnen wohnt, wissen nur wenige.
Ari Babakhanov stammt aus einer jüdischen Familie traditioneller Musiker. Sein Großvater Levi Babakhan (1873-1926), der noch heute in Usbekistan für seine wunderbare Stimme bekannte »Levicha«, war Hofsänger des letzten Emirs von Buchara. »Der Herrscher liebte ihn, als Mensch und als Sänger«, sagt Enkel Ari. Auch sein Vater Moshe (1910-1983) war Sänger. Ari hingegen ist reiner Instrumentalist. »Ich kann nicht singen«, sagt er und zuckt mit den Schultern. In den 50er-Jahren hat er am Taschkenter Konservatorium die landestypischen Instrumente Tanbur, Dutar und Rubab studiert, allesamt Langhalslauten. Zwar erlaubte die kommunistische Kulturpolitik diese Instrumente – jedoch hauptsächlich für ein europäisches Repertoire. Die Diskrepanz zwischen usbekischer und europäischer Musik führte zu einem künstlichen Zwitter. Diese Entwicklung schlug sich auch auf den Schaschmaqam nieder, dem in der Sowjetzeit zum Teil weltliche Texte unterlegt wurden.
Diesem falschen Schaschmaqam wäre in den 80er-Jahren eine DDR-Musikwissenschaftlerin beinahe auf den Leim gegangen. Angelika Jung schrieb damals an der Berliner Humboldt-Universität ihre Doktorarbeit. »Aus heutiger Sicht ist es erbärmlich, was ich damals über den Schaschmaqam wusste«, sagt sie und schüttelt ihre rote Mähne. Zwar unternahm sie einige Forschungsreisen in die Usbekische Sowjetrepublik, wie die Gegend damals hieß, doch die kommunistische Führung schien nicht zu wollen, dass sie die Familie kennenlernte, die den originalen Schaschmaqam bewahrte, die traditionelle bucharische Musik, ein sufisches Ritual zur stufenweisen Einswerdung mit Gott.
Auch als Jung 1992 bei einem Besuch in Buchara endlich mit Babakhanov zusammentraf, kam sie kaum weiter, denn der Hüter des Schaschmaqam ist kein Mann der Worte. Zwar spielte er der Weitgereisten ein paar Weisen vor, doch über den berühmten Levicha, seinen Großvater, schwieg er. »Als ich geboren wurde, war er schon tot«, sagte er der deutschen Wissenschaftlerin, die etwas enttäuscht nach Berlin zurückflog. Glücklicherweise hatte sie sich mit Babakhanovs Tochter Susana angefreundet, sodass der Kontakt nicht abbrach.
Du bist ich und ich bin du geworden, ich bin Körper, und du bist Seele.
Danach kann niemand mehr sagen: Ich bin ein anderer, oder du bist ein anderer.
Wer Ari Babakhanov begegnet, trifft keinen redseligen Menschen – doch einen Meister seines Instruments. Wenn er den Rubab spielt, das Plektrum in seiner Rechten über die Saiten springt und die linke Hand behend übers Griffbrett huscht, dann kehrt jugendliche Frische in seinen Körper. Und im Kopf des europäischen Zuhörers zaubern die Klänge eine Landschaft aus Wüste, Kamelen und Basaren: Buchara.
In der heute zu Usbekistan gehörenden Großstadt hat Babakhanov 40 Jahre lang an der Musikschule unterrichtet. Erst in den 60er- und 70er-Jahren fand er durch seinen Vater und andere Musiker allmählich zurück zum Schaschmaqam, dessen Melodien von Generation zu Generation allein mündlich weitergegeben wurden. Zu Sowjetzeiten erklangen sie nur in Ausnahmefällen, manchmal hörte man einzelne Stücke auf Hochzeiten. Babakhanov spricht leise von diesen Jahren des inneren Exils, die erst Anfang der 90er-Jahre mit der Unabhängigkeit Usbekistans endeten.
1991 gründete er mit einigen talentierten Schülern das »Ensemble Buchara«, um die klassische Hofmusik des einstigen Emi-rats wiederzubeleben. Der Gesang basiert auf Texten aus dem 13. und 14. Jahrhundert von Sufi-Dichtern wie Hafis, Rumi und Saadi in persischer Sprache, aber auch in Altusbekisch. Einige Lieder und Instrumentalstücke im Stil des Schaschmaqam hat Babakhanov selbst geschrieben, etliche davon sind bis heute in Usbekistan sehr beliebt.
Doch was ist Ruhm, wenn Freunde und Verwandte das Land verlassen? Nach dem Zerfall der Sowjetunion wanderten die meisten Juden Bucharas aus: nach Israel, in die USA, nach Österreich und Deutschland. Als alle Angehörigen Usbekistan verlassen hatten und die berühmte jüdische Gemeinde der Stadt auf rund 300 Mitglieder geschrumpft war, dachten auch die Babakhanovs über ein Leben im Ausland nach. Weil Aris Frau herzkrank war, entschieden sie sich für Deutschland. »Wir hofften, das gemäßigte Klima würde Mamas Leiden lindern, hinzu kam die gute medizinische Betreuung«, sagt Tochter Susana. Als sie ihrer Berliner Freundin Angelika am Telefon von dem Plan erzählte, schlug die ihre Hände über dem Kopf zusammen. »Um Himmels Willen, was soll der arme Mann in Deutschland! Es gibt doch keinen Markt hier für seine Musik! Er wird sich zu Tode langweilen.«
Schau auf das Porträt des chinesischen Malers, gehe das Abbild des Liebsten zu sehen.
Entweder male das Bild auf diese Weise, oder gib den Malerberuf auf.
Jungs Befürchtung war unbegründet, von Langeweile keine Spur. Im Gegenteil: Der alte Mann hat heute das Gefühl, die Zeit laufe ihm davon. Dass dies so ist, liegt auch an Jung selbst. Die Musikwissenschaftlerin untersucht und dokumentiert seit 2002 an der Universität Halle-Wittenberg in einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projekt den Schaschmaqam. »Ari ist der letzte Träger dieser Tradition, er muss es aufschreiben«, sagt Jung. Mit Babakhanovs Hilfe arbeitet sie an einer umfangreichen Monografie, an der Edition der Noten und einer akustisch-visuellen Dokumentation auf CD und DVD. Es freut sie, dass die UNESCO im Jahr 2003 den Schaschmaqam zum »Masterpiece of the Oral and Intangible Heritage of Humany« erklärte.
Wann immer die Wissenschaftlerin den Musiker trifft, hat sie Notizblock und Kugelschreiber dabei, noch öfter sogar ein digitales Aufnahmegerät. Denn sie hat gelernt aus ihrem enttäuschenden Besuch in Buchara vor 18 Jahren. Die Momente, in denen der alte Mann bereit ist zu erzählen, muss sie abpassen. Babakhanov wäre nicht Künstler, würde er sich einfach in den Dienst der Wissenschaft stellen.
An einem eiskalten Tag Ende Dezember hat Angelika Jung wieder einmal Glück. Sie ist nach Leipzig gefahren, in der Wohnung ihrer Freundin hat sich die Familie zum Essen versammelt, denn ein Gast ist zu Besuch. Und wie so oft steht Vater Ari im Mittelpunkt. Flink nestelt die Wissenschaftlerin ihr Aufnahmegerät aus der Tasche, denn der alte Mann erzählt von seinem Großvater. Der Emir habe sogar seine Mahlzeiten gemeinsam mit ihm eingenommen, sagt er mit brüchiger Stimme. Sehr ungewöhnlich sei es gewesen, mit einem Untergebenen zu speisen.
Wenn Ari Babakhanov einmal angefangen hat zu erzählen, dann holt er weit aus, gestikuliert und schnalzt hin und wieder mit der Zunge, es klingt, als würde er die Schalen von Sonnenblumenkernen ausspucken.
Levichas Vater sei ein einfacher Mann gewesen, er kochte und trug das Essen an Haushalte aus. Anders als unter Muslimen sang man in jüdischer Umgebung dabei oft. Levicha half seinem Vater häufig beim Essenausteilen, und bald erzählte man sich von seiner wunderbaren Stimme. Dies blieb auch dem Emir nicht verborgen, sodass er den jungen Mann in seine Dienste holte. Am Connewitzer Mittagstisch bei Reis, Tomaten und Lammfleisch klingt diese Geschichte wie ein Märchen aus 1001 Nacht.
»Aber in der Öffentlichkeit durfte Levicha nur mit Erlaubnis des Emirs singen«, erzählt Ari Babakhanov. Doch habe man im häuslichen Kreis auch hebräische Texte, ja sogar Gebete, zum Schaschmaqam gesungen. »Die Juden liebten diese Weisen.«
Levichas Lehrer war ein zum Islam übergetretener Jude. Eines Tages habe der Emir den Wunsch geäußert, auch Levicha solle Muslim werden. »Ich erfülle den Wunsch, aber dann werde ich nicht mehr singen, denn einfache Muslime singen nicht«, soll sein Großvater geantwortet haben. Babakhanov grinst, als habe er selbst dem Emir eins ausgewischt. In diesem Moment leuchten durch sein Altmännergesicht die Züge eines schalkhaften Jungen hindurch. »Der Emir hat es vorgezogen, dass Levicha Jude blieb.«
Der Herrscher ist fremd und ein Bettler in eurer Stadt:
Schau doch – um Gottes willen – mal auf die Fremden.
Dass sein Großvater sechs Jahre, nachdem die Sowjetmacht den Emir verjagt hatte, im Alter von nur 53 Jahren starb, beschäftigt Babakhanov bis heute. Er vermutet, dass der NKWD, Stalins Geheimdienst, ihn vergiftet hat. »Er war ihnen ein Dorn im Auge. Die Menschen sollten seine mystischen Lieder, in denen von Gott die Rede war, nicht mehr hören.«
Levicha hat die persischen Texte in hebräischer Schrift aufgeschrieben und seiner Witwe und seinen Schülern ein einzigartiges Buch hinterlassen. Babakhanov er- innert sich, wie sein Vater ihm daraus vorgelesen hat. Heute ist es verschollen. Doch manchmal nachts, wenn Leipzig schläft, hört Ari Babakhanov die Weisen aus diesem Buch – und auch solche, die nie darin gestanden haben.
Die eingeschobenen Verse stammen von dem indischen Dichter Amir Khusrau Dehlewi (1253-1325). Ari Babakhanov hat sie vertont. Im kommenden Jahr soll das Lied auf einer CD erscheinen.