von Ilka Hillger
Die drei jungen Musikerinnen aus Korea haben es an diesem Nachmittag nicht leicht. Immer wieder muss das »Kim-Trio« in der Hamburger Hochschule für Musik und Theater neu beginnen. Wie es das Stück von Felix Mendelssohn Bartholdy interpretiert, das gefällt dem alten Herrn, der nur ein paar Schritte von den drei Schwestern entfernt sitzt, ganz und gar nicht. Menahem Pressler schüttelt den Kopf und winkt mit den Händen. »Es ist zu laut, das Klavier ist zu laut. Schlag es nicht so, das ist zu roh.« Die sensiblen Ohren des 84-Jährigen sind empört über die Härte des Spiels. Vital, energisch und doch mit leiser Stimme greift er immer wieder ein.
Seit ein paar Stunden ziehen an Pressler nun schon die jungen Musiker des Meisterkurses der 2. International Mendelssohn Summer School vorbei. Dass ihn die vielen Noten, die steten Wiederholungen nicht ermüden, hat gute Gründe: Menahem Pressler liebt die Musik, und er liebt junge Menschen, die sich der Musik verschrieben ha- ben. Der gebürtige Magdeburger ist der Gründer des legendären Beaux Arts Trios, eines Klaviertrios, das so lange wie kein anderes Kammermusikensemble der Welt – in verschiedenen Besetzungen – von 1955 bis zum Sommer dieses Jahres miteinander spielte. Nur einer war in diesen 50 Jahren immer an seinem Platz am Flügel: Menahem Pressler. Respekt, Ehrfurcht, Bewunderung, all dies schwingt mit, wenn die jungen Schüler aus aller Welt auf den Pianisten treffen. Konstruktive Kritik von ihm gleicht einem Ritterschlag. Wenn der kleine Mann mit den Lachfältchen und den zarten Händen eines Pianisten sagt: »Ihr seid gut, aber ihr müsst genau dem folgen, was das Stück will«, dann nicken sie lächelnd. Und wenn am Ende des Kurses die alles verstaut ist, dann stellen sie sich noch einmal für ein Erinnerungsfoto neben ihren strengen Kritiker und lassen sich Autogramme geben.
Manche, erzählt Pressler, zeichnen seine Unterrichtsstunden auf und nutzen die Videos, wenn sie später selbst Lehrer geworden sind. »Ich genieße es zu unterrichten, ich unterrichte aus Liebe«, sagt der Lehrmeister, der Schüler gerne als »meine Geisteskinder« bezeichnet. »Oft stehen sie mir näher als meine eigenen Kinder, denn sie tun, was man sagt.«
1955 begann Pressler, in den USA zu unterrichten, in Bloomington an der Musikhochschule der Universität von Indiana. In der kleinen Stadt mit den vielen Studenten lebt er noch heute. »Eigentlich hatte ich nur für ein Semester zugesagt, und nun bin ich nach 53 Jahren immer noch da.« Pressler erweckt in keiner Minute den Eindruck, dass der Ruhestand für ihn eine Alternative ist.
Tatsächlich gibt es für den 84-Jährigen kaum einen Flughafen in den USA oder in Europa, den er nicht kennt. Der Pianist hat seinen Terminkalender jederzeit abrufbar im Kopf. Bei einer Tour von New York bis Vancouver hat er in diesem Jahr 18 Konzerte in 20 Tagen gegeben. Am 31. Oktober spielte er im Amsterdamer Concertgebouw sein 60. Konzert mit dem Ame- rican String Quartett. Vor wenigen Tagen, am 9. November, folgte er der Einladung seines Beaux-Arts-Trio-Kollegen Daniel Hope. Der Stargeiger hatte im ehemaligen Berliner Flughafen Tempelhof das Benefizkonzert »Tu was!« aus Anlass des 70. Jahrestags der Pogromnacht 1938 initiiert, das Pressler nicht nur als Musiker mitprägte, sondern auch als Zeitzeuge bereicherte. Im Sommer 2009 werden die Niederlande ihm zu Ehren ein Festival ausrichten.
Am 23. August kommenden Jahres soll das Trio in Leipzig sein allerletztes Konzert geben. Danach werden Menahem Pressler, Daniel Hope und Antonio Meneses am Cello nie wieder gemeinsam auf einer Konzertbühne zu hören sein. Ein wenig Wehmut klingt mit, als Pressler davon erzählt. Dann aber sprudeln die neuen Termine nur so aus ihm heraus: »Eigentlich ist das unerhört in meinem Alter. Und ich kann es auch noch genießen, weil ich so viel Spaß daran habe.«
Nur einen Ort, bekennt der Musiker, gäbe es, wo er lange nicht mehr gespielt habe. »Ich würde gerne noch einmal in Israel auftreten.« Seine Schwester lebt dort, Pressler selbst verließ das Land als junger Mann, nachdem er bereits eine Odyssee hinter sich hatte.
Magdeburg war die Stadt, in der der jüdische Junge aufwuchs. Seine Familie stammte aus Polen. Der junge Menahem besuchte das Dom-Gymnasium, wo ihm ein Domorganist den ersten Klavierunterricht gab. Ein Abschlusszeugnis fürs Gymnasium bekam der Junge jedoch nicht. Das gab es erst vor drei Jahren, als ihm der Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt das Bundesverdienstkreuz überreichte. »Da erhielt ich sogar noch meine Zen- suren von damals.«
1939 war ein einschneidendes Jahr für die Presslers. Im Sommer sah die Familie die letzte Gelegenheit, Deutschland zu verlassen. Sie reiste nach Italien, erklärte an der Grenze, dort die Ferien verbringen zu wollen. In Triest bestieg Pressler mit seinen Eltern, dem Bruder und der Schwester die »Galilea«, ein Linienschiff nach Palästina. Nur einen Tag, nachdem die Familie in Haifa angekommen war, erklärte Italien seinen Kriegseintritt. »Meine Frau nennt mich einen Glückspilz, und damit hat sie wohl recht. Wir hatten großes Glück.« Der Musiker verlor Großeltern, Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen in den Vernichtungslagern der Nazis.
Ihm aber, dem Heranwachsenden, blieb das Glück treu. »Wir wurden mit offenen Armen empfangen, das war so, als ob man nach Hause gekommen wäre.« Menahem Pressler spielte wieder Klavier und wollte wissen, wie gut er darin war. Nur deshalb fuhr der damals 17-Jährige 1940 nach San Francisco zum Internationalen Debussy-Klavierwettbewerb. Für den jungen Mann gab es den ersten Preis, sein bald darauf folgendes Debüt mit dem Philadelphia Orchestra war so erfolgreich, dass es schnell Solo-Auftritte mit den größten Orchestern Amerikas und Europas gab. 1955 wurden ihm die USA zur neuen Heimat. Es war das Geburtsjahr des Beaux Arts Trios.
Pressler hatte bis dahin schon eine Reihe von Platten für MGM aufgenommen, nun sollte es eine für ein Klaviertrio sein. »Suchen Sie sich noch zwei Leute, sagte man mir.« Ein Geiger des NBC Symphony Orchestra von Arturo Toscanini lebte damals im gleichen New Yorker Hotel wie Pressler. Der stellte dem Pianisten den ersten Konzertmeister Daniel Guilet vor, das Doppel komplettierte Cellist Bernard Greenhouse. »Eigentlich wollten wir nur die Platte aufnehmen, noch neun Konzerte geben und dann ›Auf Wiedersehen‹ sagen.« Es kam anders. In einer ersten Serie spielte das Beaux Arts Trio 70 Konzerte, sein Debüt gab es im Sommer 1955 in Tanglewood, New England, dort, wo es 53 Jahre später zum letzten Mal (zumindest in den USA) zu hören war.
Seit 1958 kam und kommt Menahem Pressler regelmäßig zurück nach Deutschland. »Ich genieße es, hier zu unterrichten und zu spielen. Ich habe die deutsche Musik und ihre Komponisten immer geliebt.« Mit dem Geiger Daniel Hope hat er sämtliche Violinsonaten Beethovens eingespielt, und doch sagt er: »Ich bin schon tief in Beethovens Musik eingedrungen. Aber es gibt vieles, was ich nicht weiß. Ich entdecke bei ihm und auch bei anderen Komponisten immer wieder Neues, das ich noch nicht kenne.« Froh ist er deshalb, dass er den Geist dieser Musik am Flügel vermitteln kann. »Ich bin ein Botschafter, ein Diener der Musik.«
In diesem Sinne versucht Pressler, seine Schüler zu erziehen, und er erklärt ihnen, wie es ist, in einem Trio zu spielen. »Im Idealfall gehen alle drei in eine Richtung«, weiß er. Beim Kim-Trio, dem er bei der Hamburg Summer School kritisch zuhört, habe eben dies nicht funktioniert. Menahem Pressler wundert es nicht, dass ausgerechnet jene junge Frau, die am Flügel so heftig in die Tasten schlug, die Älteste in einer Geschwisterfolge ist. »Das hätte man sich denken können.« Beim Trio sei zwar der Pianist der Primus inter Pares, »aber in der Beziehung sind wir alle gleich. Das ist wie in einer Ehe.« Wer könnte das besser wissen als ein Mann, der seit 60 Jahren mit der gleichen Frau zusammenlebt. 1948 heirateten beide in Israel. Eines aber konnte ihr der begabte Lehrer in all den Jahren nicht beibringen: das Klavierspiel. »Sie kam als Schülerin zu mir. Aber sie war nicht begabt, ich habe sie nie unterrichtet.« Tochter und Sohn sind nach der Mutter geraten und arbeiten als Mediziner. Auf Enkelkinder wartet der Pianist sehnsüchtig. Aber er hat ja seine Geisteskinder: die Schüler an der Musikhochschule in Bloomington, die Besucher der Summer School und die jungen Leute, denen er wieder helfen wird, den richtigen Weg zur Musik zu finden – im Januar beim Meisterkurs in Leipzig.