von Helmut Kuhn
Es ist die Geschichte einer Freundschaft auf den Pariser Straßen der Armen und der Flüchtlinge. Boulevard d’ Indochine im 19. Bezirk. Dort, wo die Familie Serrault in ärmsten Verhältnissen lebt, finden die Böhms aus Murnau 1942 ein neues Zuhause. Michel und Mutz besuchen dieselbe Schule. Der Franzose Michel möchte Priester werden, der Deutsche Mutz Maler. Aus dem Priester wird ein Clown und Schauspieler, aus dem Maler ein Fälscher. Dafür wird Mutz Böhm 50 Jahre später vom Staat Israel der Ehrentitel »Gerechter der Völker« verliehen. Michel Serrault wurde mit Filmen wie Ein Käfig voller Narren oder Die Phantome des Hutmachers weltberühmt.
Murnau, im Juli. Es ist ein malerischer Ort im »blauen Land«, wie die Region genannt wird. Der Name geht zurück auf die Künstlergruppe »Der Blaue Reiter« um die Expressionisten Franz Marc und Wassily Kandinsky, der mit Gabriele Münter und Alexej von Jawlensky im »Russenhaus« am Rande des Moors lebte. Ödön von Horváth fand hier den Stoff für seine Dramen. Zur schönen Aussicht heißt eines seiner Stücke, es spielt in einem früheren Hotel am Staffelsee. Einen Steinwurf davon entfernt befindet sich das Haus von Mutz Böhm.
Es ist ein schöner alter Solitär. Vom Strandbad »Lido« her weht Seeluft, im Garten thront eine Siddharta-Statue über einem kleinen Teich. Mitten in Oberbayern. Mutz Böhm ist gern unter Menschen, aber er will in Ruhe Klavier spielen und das eben auch mal nachts, wenn ihn eine Komposition gerade drückt. Deswegen hat er sich die etwas abseits gelegene Villa ausgesucht. Es ist ein Haus voller Jahrhunderte: chinesische Kunst und Jugendstil, Indisches neben Rokoko. Böhm ist auch ein Sammler. Kaum ein Flecken, der nicht von einer Wiener Kaffeehausvertäfelung, Standuhr oder Statue verstellt, von einem Gemälde verhangen wäre. Viele davon hat er selbst gefertigt. Es sind Porträts in Öl, Stiftzeichnungen, Kohleschraffuren. Es klingt irgendwie nach Brahms, aber es ist Böhm, versichert seine Frau Christel, er arbeite oben im ersten Stock gerade an der Vertonung eines Gedichtes von Hermann Hesse.
Mutz Böhm erhebt sich drahtig vom Steinway und grüßt mit Handschlag. Rasch noch ein paar Noten aufs Blatt gebracht, seine weiße Löwenmähne fällt fast schulterlang. Er lacht, er strahlt und bittet, Platz zu nehmen. Der Mann ist 80 Jahre alt, und er steht offensichtlich unter Stress.
Geboren ist Adolph Kurt Böhm 1926 in Oberlangenstadt in Franken. Vater Joseph ist Jude, Patriot und Korbmöbelfabrikant, seine Mutter aus Murnau katholisch. Joseph Böhm beschäftigt viele Menschen in seinem Ort. Doch es gibt einen Konkurrenten, Adolf Ruf, der ein Freund des Vaters ist. Mit der »Machtergreifung« der Nazis wird der Freund zum Feind. Ruf tritt der NSDAP bei, wird Sturmführer und denunziert Joseph Böhm als Kommunisten. Dieser wird noch 1933 verhaftet und in Dachau so sehr gefoltert, dass ihm später eine Niere entfernt werden muss. Erst auf Intervention des Bischofs von Bamberg, bei dem Marie Böhm vorspricht, kommt er frei.
Die Mutter lässt ihre Söhne Gerard und Adolph, den alle wegen seiner Vorliebe für das Kinderbuch Die Bärenfamilie Mutz bei seinem Spitznamen nennen, katholisch taufen – in der Hoffnung, sie damit retten zu können. Doch Joseph Böhm muss sich täglich bei seinem Peiniger melden. »Der Jud’ hat mich kaputt gemacht, jetzt mach ich den Jud’ kaputt«, sagt Sturmführer Ruf. Joseph Böhm versteht, dass auch seine Söhne, wie alle Juden und »Halbjuden« in Deutschland, bald gefährdet sein würden. Die Familie flieht nach Paris.
»Vater sprach gut französisch, weil er die Weidenstöcke von dort bezog. Vielleicht hätten wir lieber nach Amerika gehen sollen«, sagt Mutz Böhm. »Wir sind in Paris fast verhungert.« Die Fabrik war enteignet, und mehr als 200 Reichsmark hatte die Familie nicht mitnehmen dürfen. »Die Juden wurden zwar aufgenommen, aber arbeiten durften sie nicht, da waren die Franzosen sehr strikt. Manche wurden sogar an die Grenze zurückgebracht, ein glattes Todesurteil.« Mutz Böhm war damals gerade sieben Jahre alt. Noch heute erinnert er sich mit Schaudern an die erste Zeit in Frankreich. »Hunger fühlt man schon in diesem Alter. Wir klauten altes Brot aus Mülltonnen, davon lebten wir.« Die Verzweiflung war groß. »Erst nach Monaten fand Mutter einen illegalen Job als Putzfrau für die Hälfte eines normalen Lohnes. Sie fiel dabei manchmal um vor Hunger.«
Die Familie lebte in einem kleinen Hotel in der Rue de la Porte Brunet. »Morgens sahen wir Albert Einstein, der in der Nähe wohnte und mit einer Kanne Milch holen ging.« Aber wie der große Physiker nahmen die meisten Emigranten bald ein Schiff nach Amerika. Die Böhms blieben. Der Vater wurde Buchhalter der deutsch-jüdischen »Pariser Tageszeitung«, eine wohlhabende Tante floh von Bayern nach Paris und verhalf der Familie zu einer Wohnung auf dem Boulevard d’ Indochine. Dort lebten sie 36 Jahre lang, und dort begann die Freundschaft mit Michel Serrault.
Mutz Böhm wollte Maler werden. Tante Matti finanzierte dem talentierten Porträtisten die Akademie »Arts et Publicité«. Das erste Jahr durfte er nach der Aufnahmeprüfung überspringen. Aber da war noch die Musik. Julius Glücksmann, ein älterer jüdischer Arzt aus Frankfurt und Freund des Vaters, unterrichtete den Jungen am Klavier. »Das war eine harte Schule. ›Das Wichtigste ist, vom Blatt spielen zu können‹, sagte er immer. Ganz gleich, was. Ouvertüren von Weber, Swing oder Jazz. Das habe ich jahrelang geübt, und so konnte ich immer von der Musik leben.«
Als Mutz 14 ist, nimmt ihn die Musikerin Bernadette Alexandre-George in ihren Kreis auf, eine enge Freundin von Maurice Ravel. »Dort sah ich einmal ein junges Mädchen Mozarts Türkischen Marsch derart virtuos spielen, dass ich wusste: Ich will Konzertpianist werden.« Auch Michel Serraults Leben verändert die Begegnung mit einem Mädchen. »Als er von einer Reise in die Normandie zurückkehrte, war er völlig aufgelöst. ›Mutz, ich habe mich verliebt‹, sagte er und raufte sich die Haare. ›Ich kann unmöglich Priester werden‹«.
Als die Deutschen 1940 Paris besetzen, muss Joseph Böhm erneut fliehen, diesmal in die Schweiz. 1942 klopft die Gestapo auch an Marie Böhms Tür. »Sind Ihre Kinder nun Juden oder Katholiken? Dann müssen sie an die russische Front oder sie werden deportiert«, hieß es. Zudem solle sie sich scheiden lassen. »Mutter verweigerte das, obwohl man ihr mit Folter drohte.« Auch Mutz Böhm weigert sich, »heim ins Reich« zu kehren. Stattdessen riskiert er sein Leben, um andere zu retten.
»Ich hatte viele jüdische Freunde in Paris. Ab 1943 mussten sie den gelben Stern tragen. Das war gefährlich. Manchmal wurden Juden sogar in der Metro aufgegriffen und über das Sammellager Drancy nach Auschwitz verschleppt.« Da kam ihm eine Idee: »Wenn ich meinen Freunden Papiere fälschen würde, könnten sie den Stern abnehmen. Ich bin doch Maler!« In Frankreich erhielt man das »Certificat d’ Identité« im Schreibwarenladen, ging damit zum Amt und bekam die Stempel. »Ich klebte Fotografien ein und fälschte die Stempel, violette Tinte mit Wasser gemischt. Das war eine Riesenarbeit, aber auch eine künstlerische Herausforderung. Dann zerknitterte ich die Seiten und rieb sie mit Asche ab, damit sie alt und gebraucht aussahen.« Es waren Stempel von Städten, deren Rathäuser bei Bombenangriffen zerstört worden waren. »Selbst wenn jemand aufgegriffen wurde, konnte man die Fälschung nicht feststellen, da es ja keine Unterlagen mehr gab.« Diese Pässe retteten Leben.
Seit Marie Böhm zudem eine jüdische Familie in ihrer Wohnung versteckte, die im selben Haus gelebt hatte, stieg auch der Bedarf an Lebensmitteln enorm an. »Da wurde ich richtig frech. Ich fälschte Lebensmittelkarten und besorgte Brot, Butter und Fleisch. Als 17-Jähriger hat man wenig Angst«, sagt Mutz Böhm. Die letzten Wochen bis zur Befreiung von Paris im August 1944 musste Familie Böhm selbst untertauchen.
Nach dem Krieg kehrte Joseph Böhm aus der Schweiz zurück, und Mutz widmete sich wieder Michel und der Musik. »Er war ja schon immer ein verrückter Hund. 1945 wollte er den Eingebildeten Kranken von Molière gleich selbst aufführen.« Serrault führte Regie, Böhm schrieb die Musik und malte Theaterplakate. Serrault spielte den Titelhelden Argan, Böhm den Liebhaber von dessen Tochter. Das Stück wurde ein Erfolg. Die Originalplakate hängen heute im Aufgang zum Speicher, woanders gab es keinen Platz mehr. Denn Mutz Böhms Passion, neben der Musik, sind Autografen. An den Wänden reihen sich Briefe von Puccini an Notizen von Lehar und Clara Schumann. Sogar einige Zeilen von Victor Hugo kann er sein Eigen nennen. Diese Kostbarkeiten hat er in seinem langen Leben in den Pariser Antiquariaten zusammengetragen.
»Und dann hatte Michel da noch eine verrückte Idee. Er wollte eine Art Travestie-Cabaret aufführen, das er ›Les Antiquaires‹ nannte – der Vorläufer von Ein Käfig voller Narren.« Das Stück wurde im Theatre de Dix Heures an der Place Pigalle aufgeführt, in dem Mutz Böhm elf Jahre lang unter dem Pseudonym Ady Mousse Kabarettisten und Chansoniers begleiten sollte. Weil das »Theater um zehn« oft bis in die frühen Morgenstunden dauerte, sei er bis heute Spätaufsteher.
Mutz Böhm kannte die Pariser Bohème und wurde ein Teil von ihr. Er war mit dem Filmemacher Jean-Louis Barrault und dem Schauspieler Jean Marais befreundet. 1952 verhalf ihm Bernadette Alexandre-George zu seinem ersten Konzert. Endlich. 18 Stücke von Mozart. »Aber plötzlich bekam ich solches Lampenfieber, dass ich regelrecht durch die Noten galoppierte, es war schrecklich. Danach blieb ich bei der Begleitung.« Und tingelte durch Varietés und Bars, »wo man die Huren erst beiseite bitten musste, um in den Keller zu gelangen«. Aber seine Bestimmung blieb die Musik. 1960 lernte er in Paris den ungarischen Pianisten György Cziffra kennen und in der Schweiz die Söhne Hermann Hesses, Bruno und Heiner. »Hesses Lyrik sprach mich an, ich wollte das unbedingt vertonen.« Das Vertonen von Lyrik wurde mein Lebenswerk.«
Mutz Böhm blieb 52 Jahre in Paris. Aber immer wieder kehrte er mit seiner Mutter nach Murnau zurück. 1960 kaufte er dieses Haus, 1972 lernte Böhm seine Frau Christel in Murnau kennen. Seit 1985 leben sie am Staffelsee. Der alte Emigrant ist nach Bayern zurückgekehrt und hat seinen Frieden gefunden.
Frieden? Nun ja. »Er arbeitet jeden Tag und manchmal die halbe Nacht«, sagt seine Frau. Er wühle sich durch Notenberge, schreibt, spielt und komponiert ohne Unterlass. 101 Gedichte von Herman Hesse hat Mutz Böhm bis zum heutigen Tag vertont, dazu unzählige Verse von Paul Verlaine, Joseph von Eichendorff, Theodor Storm und Robert Frost. Im vergangenen Jahr wurde Böhm das Bundesverdienstkreuz verliehen, zusammen mit Bruno Ganz, Franz Beckenbauer und Peter Scholl-Latour. Eine Ehrung für die Rettung vieler Juden in Paris und sein musikalisches Gesamtwerk.
Mit dem Bariton Andreas Reibenspies konzertierte Böhm zuletzt in Deutschland, Japan und den USA. Zehn CDs sind so in ein paar Jahren mit Musikern und Sängern wie Yi-Chih Lu und Henri Bohrer entstanden. Derzeit arbeitet er an einer Aufnahme mit dem Bariton Florian Prey, Sohn des Tenors Hermann Prey. »Bis 80 habe ich gearbeitet. Jetzt fange ich an zu schuften«, sagt Mutz Böhm. Krempelt die Ärmel wieder hoch, begibt sich zum Steinway und macht sich ans Werk.