David Axelrod

Der Lotse

von Anjana Shrivastava

Martin Luther King hatte bekanntlich einen Traum – den Traum, dass sich schwarze und weiße Amerikaner versöhnen und sich eines Tages auf Augenhöhe begegnen mögen. Den Juden kam dabei nach Auffassung des Bürgerrechtlers eine besondere Rolle zu, weil nach seiner Erfahrung »Amerikas Rassisten nicht zwischen Schwarzen und Juden unterscheiden wollen«.
David Axelrod, Barack Obamas Chefberater, träumt diesen alten Traum von Martin Luther King noch heute – und arbeitet seit Jahrzehnten daran, dass er in Erfüllung geht. Der 53-Jährige stammt aus einem liberalen jüdischen Elternhaus in New York. Und es ist sein Ziel, dem ersten Schwarzen den Weg ins höchste Amt zu ebnen, ihn zum Präsidenten der USA zu machen. Zwei Politiker hat der ehemalige Journalist bereits erfolgreich beraten: Harold Washington wurde Chicagos erster dunkelhäutiger Bürgermeister und Deval Patrick erster schwarzer Gouverneur von Massachusetts. Axelrod macht keinen Hehl daraus, dass ein Erfolg bei der Wahl am 4. November mit dem Ausnahme- politiker Obama so etwas wie die Krönung seines Lebenswerkes wäre.
John McCain und Barack Obama, der republikanische und der demokratische Kandidat für das Präsidentenamt, haben zwar viele Redenschreiber, Meinungsforscher, Werbeprofis und Strategen. Das Besondere an David Axelrod ist allerdings, dass er alle vier Aufgaben für Obama, mit dem er seit 15 Jahren eng befreundet ist, erfüllt oder erfüllen kann, und dass seine Firma AKP & D auch für die erfolgreiche Fundraising-Strategie Obamas verantwortlich ist. Immer häufiger wird Axelrod als der Karl Rove der Demokraten beschrieben. Er steht hinter Obamas mitreißender Rhetorik und weicht, wenn nötig, keinem Kampf aus.
Würde Martin Luther King heute die Straßen von Chicago entlangschlendern, wäre er, beinahe 40 Jahre nach seinem Tod, mit zahllosen neuen Eindrücken konfrontiert. Axelrod aber wirkt auf den ersten Blick, als sei er direkt aus den 60er-Jahren in die Gegenwart gebeamt worden. Er trägt einen Schnauzbart und hat den etwas wirren Kleidungsstil eines Linken aus jener Zeit. Axelrods Mutter Myril bescheinigte ihm, er sähe aus wie ein »ungemachtes Bett«. Axelrod hat zwar Obamas Kernbotschaft vom »Wechsel« geprägt und zum Markenzeichen des Kandidaten gemacht. Er selbst aber mag keine Veränderungen. Und so bleibt er äußerlich wie innerlich jener amerikanischen Epoche verhaftet, als Schwarze und Juden ein revolutionäres Bündnis gegen das Establishment schmiedeten. Rund die Hälfte der Anwälte in der Bürgerrechtsbewegung waren jüdischer Herkunft. Und wenn sich im Süden Weiße unter die Demonstranten mischten, die gegen die Rassendiskriminierung demonstrierten, dann stammte auch in dieser Gruppe jeder Zweite aus einer jüdischen Familie. Selbst in der Welt der Musik wurde die Kulturrevolution von einem Juden und einem Schwarzen angeführt: Bob Dylan und James Brown entwarfen vor den Augen einer erstaunten Öffentlichkeit ein radikal neues Amerika.
Im politischen Konzept des Gespanns Obama/Axelrod spielt Radikalität keine Rolle. Man will die Politik heute nicht mehr vor sich hertreiben – man ist selbst deren Mitte. Das Duo bildet eher den Ausgangspunkt einer Koalition von liberalen weißen Oberschichten mit schwarzen Politikern und Wählern. Wie Obama ist Axelrod ein politischer Kämpfer der Extraklasse: postideologisch, postethnisch. Aber er ist durchaus mit den Niederungen des urbanen Alltags vertraut. Ihre gemeinsame Politik wurzelt in der städtischen Parteimaschinerie. Es geht nicht um hehre Thesen oder politische Ideen, es geht um das Schmieden von Bündnissen. Und vor allem geht es darum, die Wähler am 4. November an die Urnen zu bringen. Karl Rove hat mit George W. Bush die ländliche Kultur Amerikas gegen die Großstadt in Stellung gebracht. Jetzt schlägt die Großstadt zurück.
Die Geschichte von David Axelrod und Barack Obama ist aber nicht nur die Geschichte eines erfolgreichen schwarzen Politikers und eines idealistischen Juden. Eigentlich ist es die Geschichte von zwei un- gewöhnlichen Söhnen zweier ungewöhn- licher Väter. Wer ein Foto des kenianischen Politikers Barack Obama Sr. betrachtet, der ahnt, dass der Sohn das Charisma von ihm geerbt haben muss – ohne dass Vater und Sohn sich wirklich kannten. In seinem Buch Dreams of my Father erzählt Obama Jr. Anekdoten über den Vater, schildert dessen gewinnende Art, sein Selbstbewusstsein – und den jähen Abgang. Obama Sr. verließ Frau und Kind für ein Stipendium in Harvard, ging dann zurück nach Kenia und wurde dort Politiker. In den USA sah er als Afrikaner für sich keine Zukunft. Obama Jr. ist nicht nur in Harvard in die Fußstapfen seines Vaters getreten – er wurde auch zum Politiker und Menschenfischer.
Axelrod hat sich dagegen zu einem Menschenlotsen entwickelt. Die Neigung, anderen die Richtung zu weisen, ihnen auf die Sprünge zu helfen, stammt zweifelsohne wiederum von dessen Vater. Joseph Axelrod hatte 1920 bereits als Neunjähriger einer Gruppe von Waisenkindern den Weg durch die russischen Revolutions- wirren aus der Ukraine gebahnt. Das geschah zu einer Zeit, als etwa 50.000 Juden bei Pogromen ermordet wurden. Vier Jahrzehnte später begann Sohn David als kleiner Junge, sich aktiv in den amerikanischen Wahlkampf einzumischen. Erst verteilte er Flugblätter für Robert Kennedys Senatorenwahlkampf in New York. Und als Lyndon B. Johnson zum zweiten Mal als Präsident vereidigt wurde, bestand der Junge darauf, nach Washington zu reisen, wo er die Zeremonie durch ein Fernglas bestaunte.
Sein politisches Erweckungserlebnis hatte Axelrod im zarten Alter von fünf, als John F. Kennedy 1960 in New York eine Rede hielt. Er war mit seiner schwarzen Kinderfrau Jessie Berry unterwegs. Sie hievte ihn auf einen Briefkasten hoch, damit der kleine David der Rede des großen Kennedy lauschen konnte. Und er staunte darüber, dass ein Einzelner Abertausende so in seinen Bann ziehen konnte. Dass Menschen Geschichte machen, indem sie sich einfach versammeln. Es ist dieses Gefühl von Teilnahme, das Axelrod jedem Wahlkampf, aber besonders dem von Obama, verliehen hat.
Mit 19 Jahren verließ David Axelrod New York und ging als Student nach Chicago – die Stadt, die die massive Unterstützung im Herzen der demokratischen Politmaschinerie bildete und John F. Kennedy den Weg ins Weiße Haus sicherte. Und es war Chicago, wo ethnische Spannungen und Gewalt so intensiv waren, dass Martin Luther King davon sprach, die Menschen in Mississippi könnten von denen in Chicago lernen, wie man hasst. In dieser Stadt haben sich Axelrod und Obama in den frühen 90er-Jahren beim Eintrag in die Wählerlisten kennengelernt. Mittlerweile ist Axelrod ein erfolgreicher Geschäftsmann mit einem weitläufigen Anwesen auf dem Land. Und er steht womöglich unmittelbar davor, seinen Jugendtraum zu verwirklichen: die Vereidigung eines US-Präsidenten aus nächster Nähe zu beobachten, eine Vereidigung, die ohne seine Hilfe vielleicht nicht zustande kommen würde.
Doch die Karriere des Meisterplaners verlief nicht ohne Rückschläge. Einer ließ aus Hoffnung fast Verzweiflung werden. Erst 2006, mehr als 30 Jahre nach dem Geschehen, berichtet Axelrod in einem Beitrag für die Chicago Tribune darüber: 1974 erschien plötzlich ein Polizist in seinem Chicagoer Studentenwohnheim. »Ist Ihr Vater Joseph Axelrod?«, fragte der Beamte. Dann kam die Nachricht, dass er mit 63 Jahren in seinem kleinen New Yorker Apartment Selbstmord begangen habe. Erst viel später konnte David Axelrod seiner Trauer Ausdruck verleihen, dass der Vater, ein Psychologe, in völliger Einsamkeit gestorben war – dass ein Mann, der anderen so oft geholfen hatte, in der Stunde eigener Not nicht in der Lage war, jemanden um Hilfe zu bitten. Axelrod schrieb auch von der Scham, die dieses Ende damals in ihm ausgelöst hatte und seiner Angst, dass andere auch ihn für schwach halten könnten.
Nach dem Tod des Vaters ging Axelrod als Journalist zur Chicago Tribune. Die Zeitung war für ihn eine Art Ersatzfamilie, so als lebte er in der Redaktion. Mit 27 galt Axelrod als einer der wichtigsten politischen Autoren Chicagos. Dann aber wechselte der junge Mann überraschend als Pressesprecher in die Politik. Axelrod blieb ein Rastloser, einer, der ununterbrochen arbeitete. Seine Kinder schliefen in den Armen des Vaters ein, während dieser stundenlang telefonierte. Vergangenes Jahr fragte die Chicago Tribune in einem Artikel: »Der allseits bewunderte Polit-Guru Axelrod könnte seine Karriere damit krönen, Obama das Weiße Haus zu sichern. Aber wird das den ruhelosen Trieb in ihm bändigen können?«
Obama schreibt in seiner Autobiografie, dass Männer entweder den hohen Erwartungen des eigenen Vaters zu genügen versuchen – oder danach streben, deren Fehler wiedergutzumachen. Womöglich trifft auf Axelrod und Obama beides zu. Die Väter haben unter der Dunkelheit des 20. Jahrhunderts gelitten. Ihre Söhne wollen das 21. Jahrhundert etwas aufhellen.

Kultur

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