Vor dem Eingangstor des jüdischen Friedhofs in der südpolnischen Stadt Nowy Sacz herrscht reger Betrieb. Eine Gruppe orthodoxer Juden aus New York steigt in ein Wohnmobil. Einer der Männer eilt in den Vorgarten des gegenüberliegenden Hauses und wäscht sich rasch in einer Schüssel die Hände. Jakub Müller winkt dem Wohnmobil nach, und schon begrüßt er den nächsten Besucher. »Ich kum fun Wien«, sagt der etwa 70-Jährige und bittet Müller um den Schlüssel für das Ohel, in dem der bekannte chassidische Rabbiner Chaim Halbersztam (1793-1876) begraben liegt. Jakub Müller, der bald 90 wird, eilt mit dem Wiener Besucher zum Ohel. Die beiden unterhalten sich auf Jiddisch, der Verkehrssprache auf dem Friedhof.
Er habe ein Gelübde abgelegt, sagt Müller: Wenn er die Nazi-Barbarei überlebe, so werde er sich um alles kümmern, was an Jüdischem in Sanz – das ist der jiddische Name der Stadt – übrig geblieben sei. Und so trägt er seit 1946 Sorge um den rund drei Hektar großen Friedhof, den die Nazis schändeten und zerstörten – und den die Kommunisten nach dem Krieg zum Viehmarkt machten. »Die Zeit ist zu kurz, um zu vergessen«, sagt Müller. Viele der rund 300 geretteten Grabsteine hat er eigenhändig wieder aufgerichtet, und auch das Ohel für Chaim Halbersztam und dessen Familie hat Müller gebaut – obwohl er sich nicht zu den Anhängern des Zaddiken zählt. Er deutet auf einen der neueren Grabsteine: Hier habe er die letzte Jüdin des Ortes begraben, sagt er. »Ohne Minjan. Ich war allein.«
70 Jahre nach dem Überfall Deutschlands auf Polen ist Müller der letzte und einzige Jude in der 75.000-Einwohner-Stadt. 1939 lebten rund 14.000 in Nowy Sacz, rund ein Drittel der Bewohner. Müllers Familie spiegelt die jüdische Geschichte der Stadt wider: Sieben Generationen waren in Sanz ansässig, das von 1772 bis 1918 zur Habsburger Monarchie gehörte, Müllers Vater hatte im Ersten Weltkrieg in der k.u.k. Armee gedient. Die weitverzweigte Familie zählte rund 200 Mitglieder – die Schoa überlebt hat nur einer: Jakub Müller.
Bis heute beginne er zu zittern, wenn er an seinem ersten Versteck im damaligen Ghetto vorbeikomme, sagt er, auch wenn das Haus schon lange nicht mehr stehe. Als sein Versteck entdeckt wurde, konnte der damals 21-Jährige in letzter Sekunde fliehen. Über zwei Jahre irrte er im Gebirge umher, übernachtete unter freiem Himmel, in Ställen und Scheunen.
Halb verhungert kam Jakub Müller nach dem Krieg zurück nach Nowy Sacz. Er blieb, weil ihm die Kraft fehlte weiterzuziehen, und heiratete 1948 eine Polin, die zum Judentum übertrat. Der Friedhof ist ihm auch ein Herzensanliegen geblieben, als er 1968 infolge der staatlich verordneten antisemitischen Aktionen mit seiner Frau und den beiden Kindern das Land verließ. Bis heute lebt Müller in Schweden. Doch jedes Jahr nach Pessach kehrt er für ein paar Monate nach Nowy Sacz zurück. »Ich liebe diese Stadt«, sagt er, »trotz allem«.
Einige Hundert seien es, die in den Sommermonaten den Friedhof aufsuchen, berichtet Müller. Die meisten von ihnen seien Chassidim, Nachfahren oder Anhänger der Sanzer oder Bobower Wunderrebben. Und wie zur Bestätigung seiner Worte hält ein Bus, aus dem 15 Chassidim aus London aussteigen. Sie richten Grüße aus und bestürmen Müller schon am Eingang mit Fragen, einer deutet auf den Rohbau neben dem Tor: »Woss is doss far a hois?«
Müller antwortet bereitwillig. Das Gebäude ist sein letztes Projekt: Ein Haus mit einer kleinen Wohnung und Räumen, in denen sich die Besucher ausruhen und ihre rituellen Reinigungen vornehmen können. Unermüdlich bittet Müller in der ganzen Welt dafür um Spenden, doch ihm fehlen noch rund 45.000 Euro. »Ich weiß nicht, wie viel Zeit mir Gott noch gibt«, sagt er und stellt die Frage, auf die er keine Antwort findet: »Was wird aus dem Friedhof, wenn ich nicht mehr bin?« Uwe von Seltmann
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