von Igal Avidan
Was ist die Beschneidung? Warum feiern Juden Pessach? Wann tauchen sie ins Ritualbad, die Mikwe, ein? Und welche Bedeutung hat eine Bar-Mizwa-Zeremonie? Der chinesische Literaturwissenschaftler Xu Xin musste einiges lernen, um seine Forschungsarbeit in moderner amerikanischer Literatur voranzutreiben. Auf dem langen Weg zur jüdischen Tradition hat der 58-jährige Professor nicht nur viel über das Judentum erfahren, sondern auch einiges über seine chinesische Identität.
Xu Xins lange Reise zum Judentum konnte erst beginnen, als sich die Beziehungen zwischen China und den USA in den 70er-Jahren verbesserten. So konnte der Anglistik-Student 1977 als einer der Ersten an der Nanjing-Universität amerikanische Nachkriegsliteratur studieren. Und nur zufällig konzentrierte er sich auf jüdische Autoren. 1976 gewann Saul Bellow den Nobelpreis für Literatur, 1978 folgte ihm Isaac Bashevis Singer. Xu Xin beschloss, sich diesen Schriftstellern zu widmen, weil sie aufgrund ihrer Popularität nicht in Vergessenheit geraten würden. Da amerikanische Kritiker andere jüdische Autoren wie Bernard Malamud und Philip Roth in diese Gruppe einbezogen, tat dies auch Xu Xin. »Mir wurde klar: Wenn ich Malamuds Romane verstehen wollte, musste ich etwas über jüdisches Leben in Lower Manhattan zu Beginn des 20. Jahrhunderts lernen. Und um Singers Erzählungen zu verstehen, musste ich etwas über jüdisches Leben im Polen des 19. Jahrhunderts lernen.«
1985 traf Xu Xin, der bereits Aufsätze über jüdischen Humor und »Das Image des Schlamassel in der jüdischen Literatur« verfasst hatte, zum ersten Mal einen Juden. Und die Begegnung mit James Friend, Gastdozent an der Nanjing-Universität, hat sein Leben verändert. Die beiden wurden Freunde. Friend, Leiter der Englischabteilung, lud Xin 1986 als Gast in die Chicago State University ein und nahm ihn in seine Familie auf. Bereits in der ersten Woche stand eine Bar-Mizwa-Zeremonie auf dem Programm. »Das war mein erster Besuch in einer Synagoge, und ich war fasziniert«, sagt Xin. »Ich wurde erzogen, dass Religion so schlecht wie Opium sei und war niemals in einer Kirche.« Doch die Feier in der geschmückten Synagoge änderte seine Einstellung. »Ich entdeckte eine ganz neue Kultur, die mich inspirieren könnte. Daher wollte ich sofort mehr darüber lernen.«
Was Xin in der reformierten Synagogengemeinde der USA am meisten beeindruckte, war, wie sehr Juden sich bemühten, ihre Tradition zu bewahren. »Wir Chinesen haben unsere Rituale. Aber wir müssen uns keinesfalls anstrengen, diese zu erhalten. Wir leben seit einer Ewigkeit im gleichen Land mit dem gleichen Volk. Egal, was wir tun, wir bleiben Chinesen. An Feiertagen essen wir gemeinsam, treffen Familienangehörige und haben Spaß. Die Juden hingegen unternehmen einiges ganz bewusst, um ihre Bräuche zu erhalten.«
Xu Xin begann, Judaistik zu studieren. Er verbrachte zwei Jahre in den USA und besuchte 1988 als einer der ersten Chinesen Israel. Seine Besuche in Yad Vashem und in einem Kibbuz beeindruckten ihn nachhaltig. »Unsere Kommunen scheiterten, aber der Kibbuz existierte nach 80 Jahren immer noch.« Zurück in Nanjing gründete er die »Chinesische Vereinigung für Jüdische Studien« und 1992, kurz nach der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zu Israel, auch das Zentrum für Jüdische Studien an der Universität Nanjing. Dort unterrichtet er die Bibel, Judentum und jüdische Geschichte einschließlich des Holocaust sowie jüdische Kultur. Das Institut floriert. Die Bibliothek umfasst bereits 10.000 Bücher, im Konferenzraum werden hinter Glas Judaica ausgestellt – ein Kidduschbecher, einen Tallit und eine kleine Tora.
»Junge Chinesen sind sehr interessiert an neuen Ideen, sodass zu jedem unserer Kurse 200 bis 300 Studenten kommen«, erzählt Xu Xin. Der Professor ist einer der aktivsten Akademiker, die im Reich der Mitte Informationen über das Judentum verbreiten und hat viele Freunde in den Gemeinden von Shanghai, Beijing und Kaifeng. Xin war zudem Chefredakteur der chinesischen Ausgabe der Encyclopedia Judaica (1993), schrieb zwei Bücher über die 800-jährige Geschichte der jüdischen Gemeinde im chinesischen Kaifeng, ein Buch über Antisemitismus (1995) sowie ein Schulbuch über jüdische Geschichte und Kultur, das in Gymnasien verwendet wird. Xin organisiert Ausstellungen über das Judentum und den Holocaust, organisiert Stipendien für angehende Akadamiker, damit sie in Israel studieren können. Für seine Verdienste erhielt er 2003 die Ehrendoktorwürde der Bar-Ilan-Universität.
Die Begeisterung für Juden in China trägt jedoch mitunder auch ungewöhnliche Züge. So legen sich manche Judaistik-Studenten einen hebräischen Namen zu. In Nanjing nennt sich zum Beispiel ein Professor Song Akiba, seine Studenten sind Moshe, Yam, Gal und Alon. Der 27-jährige Zhenhua Meng aus Shanghai heißt jetzt Jeremiah. »Als wir mit dem Studium anfingen, suchte unser israelischer Lehrer für jeden einen hebräischen Namen aus. Da mich der Prophet Jeremiah interessierte, nahm ich diesen Namen, der in Israel aus der Mode gekommen ist. Immerhin können sie ihn richtig aussprechen, im Gegensatz zu meinem chinesischen Namen.« Durch das Studium der Bibel wuchs Zhenhua Mengs Interesse für Juden. Er studierte an der Beijing-Universität drei Jahre Hebräisch, verbrachte dann ein Jahr an der Hebräischen Universität in Jerusalem und verfasste Artikel für chinesische Zeitungen. 2001 richtete er eine Webseite mit Informationen auf Chinesisch über Israel und Juden ein, in deren »Kanaan-Forum« heftige Diskussionen über Israels Politik stattfinden. »Seit Ende 2007 ist die Mehrheit der Teilnehmer zum ersten Mal pro-israelisch«, berichtet er.
Während Professor Xu Xin die Juden für moralischer hält als die Chinesen, verbinden die meisten Chinesen Juden mit zwei anderen Eigenschaften, berichtet Jeremiah: Intelligenz und Reichtum. Kein Wunder, dass Bücher wie Die Bibel der Juden für Business und Weltführung, Die Weisheit der jüdischen Händler oder Die jüdische Art, Kinder zu erziehen populär sind. »Solche Bücher stellen nichtjüdische Milliardäre bewusst als Juden dar, und deren Erfolgsgeschichte wird erzählt«, sagt Jeremiah. »Das Wort ›Talmud‹ kommt in vielen chinesischen Titeln vor, die nichts mit Judentum zu tun haben. Für mich ist das eine Form des Antisemitismus.« Er selbst hat zwei Bücher aus dem Hebräischen übersetzt, darunter den Roman Löwenhonig von David Grossman. Während des zweiten Libanonkriegs sammelte er Material für seine Doktorarbeit über persische Juden.
Die Begeisterung in China für Juden hat jedoch klare Grenzen. Der Chabad-Rabbiner in Shanghai, Avraham Greenberg, erzählte vor Kurzem: »Mein Bruder Shalom, bereits vor mir Rabbiner hier, war von den Behörden aufgefordert worden, China zu verlassen, weil ein einheimischer Chinese seinen Gottesdienst besucht hatte. Seitdem ließ mein Bruder keine ›Besucher‹ mehr zu.« Das Judentum gehört nicht zu den fünf genehmigten Religionen – Buddhismus, Islam, Protestantismus, Katholizismus und Taoismus –, die staatlich kontrolliert werden. Die Behörden erlauben Chinesen nicht, an Gottesdiensten teilzunehmen, die von Ausländern geleitet werden. »Juden dürfen ihre Zeremonien haben, und Beijing organisiert, dass Schimon Peres zur Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele zu Fuß gehen kann, um den Schabbat nicht zu entweihen«, sagt Jeremiah. »Aber an jüdischen Festlichkeiten dürfen Chinesen nicht teilnehmen.«
Wird er die Olympischen Spiele nutzen, um mit den israelischen Sportlern sein Hebräisch aufzufrischen? Jeremiah hat andere Pläne für den August: seine Hochzeit. »Aber ich hoffe, dass die Spiele weltweit Verständnis für China wecken. Die Essenz der Wettkämpfe sind Frieden und Freundschaft, nicht die Zahl der Goldmedaillen.«