von Andreas Rüttlinghaus
Er war dabei, aber er konnte nichts dafür. Juan Pablo Sorin ist wegen einer Muskelverhärtung in der Wade gehandicapt. Dennoch war er mitgereist nach Stuttgart und hat mitansehen müssen, wie seine neuen Mannschaftskameraden gegen die Stuttgarter Kickers, eine Mannschaft der dritten Liga, auf peinliche Weise in der ersten Runde des DFB-Pokals ausgeschieden ist. Es gibt viel zu tun beim Hamburger SV, dessen Start in die Bundesligasaison nicht optimal verlaufen ist. Für Juan Pablo Sorin ist nun eine Hauptrolle reserviert bei der Entwicklung einer neuen Spielkultur. Das hat HSV-Trainer Thomas Doll schon bei der Vorstellung des Argentiniers angekündigt. Zunächst aber muß sich Sorin um eine völlig verunsicherte Mannschaft kümmern.
Ein Führungsspieler soll er sein. Das war der Linksverteidiger lange Zeit auch in der argentinischen Nationalmannschaft. Er war der Kapitän des Teams, das mit hohen Erwartungen in die WM dieses Sommers gestartet war und im Elfmeterschießen gegen Deutschland ausschied. Sorin war einer der auffälligsten Spieler seines Teams. Er ist einer jener Verteidiger, von denen Experten schwärmen, weil sie nicht nur zerstören, sondern im Spiel nach vorne wie zurückgezogene Spielmacher agieren. Seine Trainer haben früh erkannt, daß der Linksfuß dennoch mit seiner physischen Art, mit seiner Leidenschaft im Zweikampf und mit seiner Lust, weite Wege zu gehen, in der Defensive besser aufgehoben ist. Sein Spielverständnis ist so ausgeprägt, daß er die Bälle in der Verteidigung ablaufen kann, nur selten muß er zur Grätsche ansetzen. Hat er den Ball erobert, treibt er ihn persönlich über die Mittellinie und rückt erst zurück, wenn es notwendig ist.
Seine nüchternen Analysen und ernsthaften Auskünfte jedoch wollen bisweilen nicht so recht passen zum emotionalen Auftreten auf dem Spielfeld. Doch auch wenn er außerhalb des Spielfelds ein besonnenes Auftreten an den Tag legt, so ist er doch einer, der etwas zu sagen hat. Mit Fußball muß das nicht immer zu tun haben. Das liegt an seiner Herkunft und seinem Werdegang. Über Juan Pablo Sorin lassen sich keine Geschichten vom Aufstieg aus dem Elend der Armenviertel in die reiche Welt des Profifußballs erzählen. Er ist Sproß einer Mittelstandsfamilie aus Buenos Aires. Sein Vater lehrt Bauwesen an der Universität und ist ein angesehener Architekt. In seiner Familie gibt es Schriftsteller, Musiker und Journalisten. Auch der Fußballer unter den Sorins äußert sich bisweilen wie ein Intellektueller. Zu Beginn seiner Karriere moderierte er eine Radiosendung, in der er auch politische Themen verhandelte. Aus seiner linksliberalen Gesinnung hat er nie ein Geheimnis gemacht.
Über seine jüdische Herkunft allerdings spricht er nicht gerne. Jüdische Organisationen würden Sorin gerne als Vorzeigesportler mit israelitischem Hintergrund präsentieren. Während sich José Pekerman, der zurückgetretene Trainer der Nationalmannschaft, zu seinem Judentum bekennt, wehrt Sorin Fragen danach regelrecht ab. Als er vom argentinischen Fernsehen gefragt wurde, was er als Jude von der WM-Teilnahme des Iran halte, antwortete er: »Lassen Sie uns das nicht von dieser Seite aus betrachten. Das hat damit nichts zu tun.«
Wie bei vielen Nachkommen jüdischer Immigranten, die vor mehr als 100 Jahren nach Argentinien gekommen sind, scheint auch bei Sorin der Assimilationsprozess so weit fortgeschritten zu sein, daß die jüdische Abstammung im Alltag keine Rolle mehr spielt. Sorin wurde 1976 geboren, in dem Jahr, in dem die Militärs sich an die Macht geputscht haben und begannen, ihr Unterdrückungsregime aufzubauen. Unter den 30.000 Menschen, die in der Zeit der Militärdiktatur verschwanden, waren etliche Juden, die als Unruhestifter verdächtigt wurden. Viele argentinische Juden entschieden sich in dieser Zeit, ihre Kinder nicht in jüdischen Einrichtungen erziehen zu lassen. Sorin wuchs in dieser Zeit der künstlich beschleunigten Assimilation an die Mehrheitsgesellschaft auf.
Wenn er auf den Platz läuft, bekreuzigt er sich. Einen Widerspruch zu seiner jüdischen Herkunft scheint er darin nicht zu sehen. Während der Weltmeisterschaft hatte man ohnedies den Eindruck, daß es nur eine Sache gibt, die er mit religiöser Inbrunst verehrt: die Nationalmannschaft. Um seinen Verpflichtungen für die Auswahl nachkommen zu können, hat er vor zwei Jahren seinen damaligen Club Paris St. Germain verlassen. Der Trainer der Pariser, Vahid Halilhodzic, hatte von ihm verlangt, nicht mehr zu jedem Spiel der Nationalmannschaft zu reisen. Das kam für Sorin nicht infrage. Er wechselte nach Spanien, der insgesamt achten Station seiner bewegten Profikarriere. Ein erstes Engagement in Europa scheiterte früh: Bei Juventus Turin konnte sich der Kapitän der argentinischen Juniorenweltmeisterelf von 1995 nicht durchsetzen. Es folgten vier Jahre in Argentinien, wo er mit River Plate vier Meistertitel gewann. Dann wechselte er nach Brasilien, wo er zwei Jahre spielte und als Mannschaftskapitän mit Cruzeiro die Copa do Brasil gewann. 2002 begann eine Odyssee durch europäische Spitzenklubs. Sorin stand bei Lazio Rom unter Vertrag, beim FC Barcelona und bei Paris St. Germain. Vor zwei Jahren unterschrieb er einen Vierjahresvertrag beim FC Villareal. Als er mit Trainer Carlos Pellegrini nicht mehr zurechtkam und sich auch mit dem launischen Nationalmannschaftskollegen Juan Ruiquelme nicht mehr recht verstand, bat er um die Freigabe. Der HSV nutzte die Möglichkeit, den plötzlich auf den Markt geworfenen Star zu verpflichten. Nicht einmal drei Millionen Euro mußten die Hamburger dafür zahlen. Ähnlich hoch dürfte das Jahressälär des 30jährigen sein.
Sorin hat versprochen, sich der Verantwortung beim HSV zu stellen. In Spanien hat Sorin sich seiner intellektuellen Wurzeln erinnert und begonnen, sich außerhalb des Fußballfeldes zu engagieren. Im vergangenen Jahr brachte er mit seiner Frau einen Erzählband verschiedener Autoren heraus. Der Erlös soll wohltätigen Einrichtungen der Kinderhilfe zukommen. In Hamburg dürfte er für solche Nebenjobs zunächst nur wenig Sinn haben.
Erst muß er sportlich ankommen bei seinem neuen Klub. Stellt sich beim HSV dank Sorins Mithilfe der Erfolg ein, dann darf der Fußballintellektuelle auch wieder von einer Zukunft im Nationaltrikot träumen. In den Planungen des neuen Trainers Marcelo Bielsa spielt der 75malige Internationale bislang keine Rolle. Sorin wird alles daransetzen, daß sich das ändert. Dem HSV kann das nur recht sein.