Senek Rosenblum

Der Junge aus dem Schrank

von Miryam Gümbel

»Ich heiße nicht mehr Senek Rosenblum, sondern Senek Rurzycki. Auch muss ich die Dame Tante nennen. Vater hat mich einer regelrechten Gehirnwäsche unterzogen, denn bei dem bis ins kleinste Detail einstudierten Rollenspiel bin ich der Unsicherheitsfaktor schlechthin.« Senek Selig Rosenblum hat dieses Rollenspiel durch- und überstanden, das ihn als Siebenjährigen auf einem Warschauer Gemüsemarkt nach der Flucht aus dem Warschauer Ghetto in die Obhut einer polnischen Frau führte.
Rosenblum hat den Holocaust überlebt. An Jom Haschoa hat er in der Synagoge Ohel Jakob über seine Erlebnisse als Der Junge im Schrank gesprochen. Unter diesem Titel hat er seine Kindheit im Krieg bei Club Premiere (2008) veröffentlicht.
Rosenblum strahlt heute stets Lebensfreude aus. Die Erinnerung an die geliebten Eltern und seine bis zum fünften Lebensjahr glückliche Kindheit im polnischen Zychlin jedoch lassen bei dem Vortrag seine Stimme des Öfteren beinahe ersticken. So war es eine gute Lösung der Organisatoren der Gedenkstunde, die Schilderung der Ereignisse auf mehrere Personen zu verteilen. Mitglieder der Theatergruppe Lo Minor aus dem Jugend- und Kulturzentrum der IKG trugen einige Passagen des Buches vor. Senek Rosenblum selbst las vor allem die Seiten, die seine Gedanken und seine Seelenqualen widerspiegeln.
Der Schrank, der dem Buch den Titel gab, war das Versteck, welches das Kind auch und gerade dann nicht verlassen durfte, wenn alle anderen Bewohner des Hauses bei Luftangriffen Zuflucht in den Kellern suchten. Vergangenheit und aktuelle Ängste des Kindes mischten sich dort: »Schöne Erinnerungen werden zu Albträumen. Ich sehe meine Mutter auf der großen Sonnenblumenwiese hinter unserem Haus stehen und winken. Ich laufe ihr entgegen, aber etwas hindert mich am Weiterkommen, dabei will ich mich bei ihr bitter beschweren, was mir jetzt alles Schlechtes widerfährt.«
Das will er auch bei seinem Vater, als dieser ihn bei seiner »Tante« besucht. Doch das Kind spürt schnell, dass es zu diesem Zeitpunkt den Vater damit nicht belasten darf.
Vater und Sohn haben überlebt. In München begann für sie ein neuer Lebensabschnitt. Sie gehörten zu den wenigen tausend Menschen von etwa einer halben Million aus dem Warschauer Ghetto, die dem Tod entronnen waren.
»Es blieben nur wenige übrig, die darüber Zeugnis ablegen konnten«, sagte Rabbiner Steven Langnas bei seiner Gedenkansprache. »Jedes Jahr rückt die Verpflich- tung des Zahor noch näher an die jüngere jüdische Generation heran. Für die Überlebenden ist es wichtig, dass in jeder Generation das Vermächtnis des Gedenkens und der Respekt vor den Verstorbenen ernst genommen und gepflegt wird.«
Dass die Erinnerung wach bleibt, dazu trägt auch die Arbeit der Lehrer und Erzieher an der Sinai-Ganztagsgrundschule der Münchener Kultusgemeinde bei. Zur Gedenkfeier trugen die Kinder mit mehreren Liedern und Texten bei, die zum Teil auf Erinnerungen und Dokumenten von Schoa-Opfern basierten.
Das traditionelle El Mole Rachamim beendete die Gedenkstunde, die eingebettet war zwischen Mincha und Maariv. Dieses Gebet für die Ermordeten der Schoa rüttelte die Anwesenden in diesem Jahr ganz besonders auf: Die Kraft der Stimme von Kantor Asher Heinovitz aus Israel ging im wahrsten Sinne des Wortes durch Mark und Bein. Die Orte des Mordens und die Anklage der Verbrechen drangen tief und nachhaltig in das Bewusstsein ein.
Wie tief die Erinnerungen dieses Schmerzes den Alltag der Überlebenden bestimmen, unterstreicht eine Stelle in Rosenblums Buch. Er spricht dort von der Zeit, als sein Vater ihm nach Kriegsende erneut das Leben gerettet hat: »Als Vater mir nach mehreren Wochen Wintersachen besorgt, bin ich endgültig über dem Berg. Er lässt meine Sachen allesamt von der Kulawa verbrennen. Als sie ihn bittet, die porösen Gummistiefel behalten zu dürfen, faucht er sie an: ›Alles wird verbrannt.‹« Man sieht es ihm an, er will etwas Unseliges abschütteln, allein gelingen wird es ihm nie.

Kultur

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