Diese Freundschaft ist ungewöhnlich. Katarina Bader, eine junge Journalistin aus Süddeutschland, und Jerzy Hronowski, genannt Jurek, aus Polen. Als sich die beiden kennenlernen, ist sie 18, er fast 80 Jahre alt. Beide treffen sich in der Jugendbegegnungsstätte von Auschwitz, wo die junge Katarina an einem Journalistenseminar teilnimmt. »Treffen mit einem Zeitzeugen« steht lapidar auf dem Programm. Katarina, die in der Bibliothek ihrer Eltern viele Bücher über den Nationalsozialismus gesehen und als Schülerin Das Tagebuch der Anne Frank gelesen hatte, ist überzeugt, sie würde auf die Begegnung gut vorbereitet sein.
Doch dann kommt alles ganz anders. Die Nachwuchsjournalistin ist geschockt von dem, was Jurek erzählt: Seine Verhaftung durch die Gestapo – mit gerade mal 17 Jahren. Sein vierjähriger Überlebenskampf im Konzentrationslager Auschwitz. Jurek lässt sie nicht mehr los. Lange nach der Rückkehr in ihr Heimatdorf schreibt sie Jurek einen Brief mit der Bitte, sie zu besuchen, ihre Familie kennenzulernen und Schulvorträge über sein Leben zu halten. Jurek bedankt sich »für den Liebesbrief«. Einige Monate später kommt der alte Mann tatsächlich.
Nicht nur von dieser ersten Begegnung erzählt Katarina Bader in ihrem Buch Jureks Erben. Auch von der letzten. Am Grab Jureks. 2006 stirbt er ganz plötzlich unter mysteriösen Umständen. Bader merkt, dass sie mehr verloren hat als jemanden, der ihr Polnisch beibrachte, der ihr von seinem Leben berichtete, der ihr Antworten auf ihre vielen Fragen gab. Sie hat einen echten Freund verloren. Einen, der das Wort Freund auch verdient. Nun begibt sie sich auf die Suche nach seiner Vergangenheit und möchte herausfinden, warum Jurek sich zum Beispiel mit seinem Sohn Tomek, der mit 16 das Haus im Streit verließ, nie versöhnt hat. Und warum Jurek ihr, der 60 Jahre jüngeren Frau, alles erzählt hat, was ihm auf dem Herzen lag.
Bader macht aus dieser Freundschaft einen Artikel, der auf jetzt.de erscheint, der Jugendplattform der Süddeutschen Zeitung. »Herr Hronowski und ich« – so der Titel des Artikels – erhält als »eindringliches und berührendes Porträt« eine besonders lobende Erwähnung bei der Verleihung des n-ost-Reportagepreises 2007. Aus dem Artikel erwächst schließlich das Buch.
Nicht allein ein Porträt Jureks ist dadurch entstanden. Die Autorin hat das Buch in der Ich-Form geschrieben und zeigt selbst an vielen Stellen Schwäche, Stärke, Ungeduld, Verzweiflung, aber auch Hoffnung. Die hat sie bei Jurek geschöpft, denn der hatte niemals aufgegeben, sondern immer ans Leben gedacht.
Bader nimmt den Leser mit auf eine Reise, die nicht nur durch die Generationen, sondern auch durch die Welt geht. Jureks Sohn Tomek zum Beispiel lebt als Truckfahrer in den USA, und das Verhältnis zu seinem Vater ist mehr als ambivalent: Mal schimpft er wüst auf ihn, mal weint er seinetwegen. Mal sind seine Gedanken eher an einem karibischen Strand, mal, besonders während der langen Truckfahrten, ganz bei seinem Vater Jurek.
Auf solch eine Fahrt, von der Ostküste der USA nach San Francisco, nimmt Tomek Katarina mit – beinah wie in einem Roadmovie. Und immer lässt Bader ihr Tonband mitlaufen. Originalaufnahmen, wie die Erlebnisse Jureks, sind kursiv gedruckt, einzelne Gesprächssituationen, wie die Gespräche mit Tomek, etwas eingerückt. So kann der Leser auch, während er das Buch liest, an den Interviews teilhaben. Das ist zwar gut gedacht, aber etwas gewöhnungsbedürftig. Solche Gesprächspassagen unterbrechen den Lesefluss, und manchmal ist auch die Ich-Form ein wenig anstrengend. Aber die Geschichte von dieser ungewöhnlichen Freundschaft überdeckt solche Kleinigkeiten. Denn Bader gelingt es, ihre Recherche, die ursprünglich nur einem Artikel galt, für ihr Buch nicht gekünstelt aufzublasen. Katrin Richter
Katarina Bader: Jureks Erben. Vom Weiterleben nach dem Überleben. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010, 384 S., 19,95 €