Purim! Die Megillat Esther ist ausgerollt, Menschen sind verkleidet, Getränke und Hamantaschen stehen bereit, Geschenke werden an die Familienmitglieder, Nachbarn und sogar Fremde verteilt. Eine Feier ist angesagt, und an dem Tag spielt Maßhalten keine Rolle. Ganz im Gegenteil: Man darf so viel trinken, bis man zwischen dem gerechten Mordechai und dem bösen Haman nicht mehr unterscheiden kann.
Während Channuka ein mehr auf die Seele hin orientiertes Fest ist, hat Purim direkt mit dem Körper zu tun. An Chanukka wurde die Seele des Judentums gerettet. An Purim der Körper. Aber auch Purim bietet sehr viele intellektuelle und spirituelle Gedanken. Zum Beispiel die Tatsache, dass Mordechai und Esther beide dem Hause Saul angehörten – dem eifrigsten und gefährlichsten Feind Davids, seiner Dynastie und des regierenden Stammes Juda. In der Megillat Esther wird Mordechai trotzdem »Isch Jehudi« – »Mann von Juda« genannt. Und noch eine Überraschung: Mordechai riskiert sein eigenes Leben und das Leben seines gesamten Volkes, weil er seiner Religion treu bleiben will. Trotzdem befiehlt er Esther, ihre jüdische Identität zu verbergen und davon niemandem zu erzählen.
Vielleicht ist die Geschichte von Purim eine Aufforderung, uns von unseren Klischees zu befreien. Zum Beispiel dem, dass die Angehörigen der Dynastie von Juda und David die einzigen treuen Helden des Judentums seien, oder dass Menschen automatisch nach ihrer Herkunft in Gruppen eingeordnet werden können. Die Purimgeschichte enthält zudem eine Mahnung, mit Begriffen wie Treue und Verrat oder Held und Versager viel vorsichtiger umzugehen. Denn wenn wir denken, dass uns endlich klar ist, auf welcher Seite das Gute liegt und auf welcher das Böse, wendet sich die Geschichte ganz plötzlich.
Purim lehrt uns, dass es nur einen Gott gibt und dass in Gott alle Eigenschaften zusammenkommen. Alle Gegensätze treffen sich in Gott und werden miteinander vereinigt. So steht geschrieben, dass für Gott das Licht und die Finsternis identisch sind (Psalm, 139,12). Prophet Esaja beschreibt Gott als Stifter des Friedens und Schöpfer des Kriegs (45,7). Im Talmud ist zu lesen, dass manche der bedeutendsten Rabbiner direkt vom bösen Haman abstammen (Sanhedrin, 96b). Vielleicht verkleiden wir uns deshalb auch an Purim: Um Gott, uns selbst und andere Menschen von unbekannter Seite kennenzulernen. Und uns von Gott immer aufs Neue überraschen zu lassen.