von Rabbinerin Irith Shillor
Das Gottesurteil für Ehebrecherinnen wurde vor beinahe zweitausend Jahren aus dem jüdischen Leben verbannt. Dennoch ist es Teil der Tora. Wir lesen jedes Jahr darüber – so auch an diesem Schabbat –, und zweifellos erregt es in den meisten von uns ein Gefühl des Abscheus. Wenn ein Ehemann seine Frau der Untreue verdächtigt und sich vor Eifersucht verzehrt, hat er das Recht, sie vor den Priester zu bringen, wo man sie zwingt, ein spezielles Mittel zu trinken. Wird sie krank, ist ihre Schuld erwiesen: Sein Verdacht hat sich bestätigt. Wird sie nicht krank, ist sein Argwohn grundlos. Sollte er aber immer noch ein wenig misstrauisch sein, so erfahren wir, dass die Wirkung des Tranks innerhalb von drei Jahren auftreten und sein Verdacht sich daher immer noch als begründet erweisen kann!
Der Mischna zufolge wurde die Sotah von Rabbi Yohanan ben Zakkai aufgehoben, der anerkannten rabbinischen Autorität zur Zeit der Zerstörung des Tempels. Der Tempel war Mittelpunkt des jüdischen Lebens gewesen. Nachdem er zerstört war, mussten viele Praktiken aufgegeben werden. Der bedeutendste Initiator dieser Veränderungen im jüdischen religiösen Leben war Yohanan ben Zakkai. Ohne ihn hätte das Judentum nicht überlebt.
Laut der Tora und späteren rabbinischen Quellen fand das Ritual auf dem Gelände des Tempels statt. Da es durch Yohanan ben Zakkai abgeschafft wurde, liegt der Gedanke nahe, dass er einfach keine andere Wahl hatte. Der Tempel ist zerstört, also wird das Ritual abgeschafft, genau, wie das Opfer abgeschafft wurde. Dinge, die im Tempel durchgeführt wurden, konnten in der Epoche nach der Zerstörung nicht mehr stattfinden.
Aber die Mischna erzählt uns, dass er andere Gründe für seine Entscheidung hatte. Er schaffte die Sotah ab, »als die Zahl der (männlichen) Ehebrecher wuchs« (Mischna Sotah 9,9). Mit anderen Worten: Auch wenn es praktische Gründe gab, die eine Beibehaltung des Rituals unmöglich machten, war Yohanan ben Zakkais Entscheidung für dessen Abschaffung wohlüberlegt und nicht nur eine Reaktion auf die Zerstörung des Tempels. Und er führte ethische Gründe dafür an.
Ein Grund, den Yohanan ben Zakkai für die Aufhebung der Gottesurteilspraxis nennt, nimmt die Autorität der Bibel in Anspruch. Hosea 4,14 legt dar: »Aber ich strafe nicht eure Töchter dafür, dass sie zu Dirnen werden, und nicht eure Schwiegertöchter dafür, dass sie die Ehe brechen. Denn sie (die Priester) selbst gehen mit den Dirnen beiseite.” Anders gesagt: Wenn sich die Männer unmoralisch verhalten, gibt es für sie keine Rechtfertigung, ihre Frauen zu bezichtigen.
Die Rabbiner des Talmuds fanden einen weiteren biblischen Nachweis. Am Ende des Abschnitts über die Sotah lesen wir: »Und der Mann soll frei von Ungerechtigkeit sein, und die Frau soll ihre Ungerechtigkeit tragen«, was besagt, dass eine Ehebrecherin nur dann verurteilt werden kann, wenn der Ehemann unschuldig ist. Und »wenn die Zahl der (männlichen) Ehebrecher wächst«, liegt die Annahme nahe, dass kein Mann unschuldig ist.
Die talmudische Behandlung der Sotah ist faszinierend, weil wir den Widerstreit erleben zwischen denjenigen, die das Ritual als durch und durch schlecht ansehen, und denjenigen, die einen wertvollen Kern darin erkennen. Der Talmud wurde lange nach der Abschaffung des Rituals verfasst. Nicht wenige aber fühlten sich nicht wohl bei dem Gedanken, dass eine Vorschrift aufgehoben worden war, die zu den in der Tora verankerten Gesetzen gehörte.
Die Befürworter der Aufhebung führen rechtliche und moralische Argumente ins Feld, um ihre Sache zu untermauern. Rabbi Hanina aus Sura argumentierte so: Da es einem Ehemann verboten ist, mit seiner Ehefrau in Beziehung zu treten, wenn er sie der Untreue verdächtigt, darf er sie nicht mehr verdächtigen, weil die Probe, die ihre Schuld oder Unschuld beweisen soll, nicht länger existiert und sie ihm deshalb für immer verboten wäre. Ein anderer Weiser drückte sich noch unverblümter aus: »Es ist verboten, die eigene Ehe-
frau zu verdächtigen.«
Seine rechtliche Argumentation baut der Talmud auf der Überlegung auf, dass eine Frau, die den Ehebruch gesteht, sich dem Gottesurteil nicht unterwerfen muss; daher müssen die Gerichte alles in ihrer Macht Stehende tun, sie zum Geständnis zu überreden.
Trotz der Abschaffung des Gesetzes ist der Talmud, sollte es dennoch zur Anwendung kommen, darauf bedacht, dass es auf humane Weise geschieht. Da es unwahrscheinlich ist, dass Trinkwasser, mit ein bisschen Staub und Tinte vermischt, auf eine gesunde junge Frau eine gesundheitsgefährdende Wirkung hat, stellt das Ordal für jede unschuldige Frau, die wegen Ehebruchs angeklagt wurde, einen Ausweg dar.
Uns erscheint das vielleicht recht apologetisch, doch wenn man bedenkt, dass wir es mit der Zeit zwischen dem dritten und dem fünften Jahrhundert zu tun haben, ist es erstaunlich, wie viel intellektuelle Mühen die Rabbiner darauf wandten, um die Auswirkungen der Probe zu minimalisieren und zu lindern, einer Praxis, bei der sich augenscheinlich viele von ihnen genauso unbehaglich fühlten wie wir heute.
Doch aus einer modernen Perspektive ist bereits die Tatsache, dass ein solches Ritual in die Bibel aufgenommen wurde, problematisch. Manche behaupten, die Passage wurde hauptsächlich für den Zweck formuliert, Frauen gegen eifersüchtige Ehemänner zu schützen. Gewiss eine simple Methode, Verdächtigungen und Eifersucht auszu-
merzen.
Dennoch bleiben zwei Fragen offen: Warum wurde ein solches Ritual speziell für Frauen entworfen? Was ist, wenn eine eifersüchtige Frau begründet oder grundlos ihren Ehemann des Ehebruchs verdächtigt. Und wieso wird das, was wesentlich sein Problem ist, ihrem Körper eingeschrieben? Das ist nicht ungewöhnlich. So dürfen Frauen nicht singen, weil es die Männer ablenkt. Aus dem gleichen Grund müssen Frauen zu jeder Zeit ihr Haar bedecken, sogar wenn es heiß ist und die Perücke wie verrückt juckt!
Es geht um Macht – um den immerwährenden Kampf zwischen Männern und Frauen, der in der Bibel so offenkundig ist. Statt zu beweisen, dass Männer (oder in der Tat Frauen) besser sind, sollte an die Stelle eines abscheulichen Rituals das treten, wonach wir immer gestrebt haben – die Bereitschaft zu vertrauen, Ehrlichkeit und die Notwendigkeit, so zu handeln, dass Vertrauen möglich ist.
Bamidbar, 4. Buch Moses 4,21 – 7,89