Biosprit

Der große Hunger

von Rabbiner Andreas Nachama

Wie sollen wir die Früchte des Feldes verwenden? Als Lebensmittel für eine ständig wachsende Weltbevölkerung oder als vermeintlich sauberen Biosprit für unsere Automobile? Nimmt man die Entscheidungen der Politiker ernst, den Kohlendioxid-Ausstoß bis zum Jahr 2020 um 20 Prozent zu senken, dann führt anscheinend kein Weg an Biodiesel und Ethanol vorbei. Wir sind es gewohnt, alles in Marktbeziehungen zu sehen – die Welt als Börse, von Managern ohne Herz und Moral zu einer Eigentümergesellschaft gemacht. Steigt die Nachfrage, steigt der Preis. Sinkt sie, fällt der Preis.
In diesen Tagen feiern wir Pessach, das Fest der ungesäuerten Brote. Neben der Erklärung, dass die Israeliten beim Auszug aus Ägypten in der Mitte der Nacht nicht genug Zeit hatten, den Brotteig säuern zu lassen, kann man das Fest auch als erstes Mehlopferfest verstehen, wo ganz frisches – eben noch ungesäuertes, neugeerntetes Getreide zum Mittelpunkt wird.
Angesichts der wegen Nahrungsmittelknappheit explodierenden Preise für Brot und Milch erscheint es heute fast unverständlich, dass es erst wenige Jahre her ist, dass die EU damit begann, Bauern Prämien zu zahlen, wenn sie ihre Äcker stilllegten. Die Weizenüberschüsse und Butterberge sind inzwischen nahezu verbraucht, und die großen Getreideexporteure wie Russland oder die Ukraine denken bereits darüber nach, eine Art Getreide-OPEC zu gründen, um ihre Produkte möglichst teuer zu verkaufen. Vorbei sind die Zeiten, da Getreide in erster Linie ein direktes Lebensmittel für den Menschen war. Eine ins Gigantische gesteigerte Tierproduktion verlangt heute immer lauter nach den Früchten des Feldes als Futtermittel.
Eines der Pessach-Symbole ist das Opfer eines Lammes. Religionswissenschaftler merken an, dass das Lamm den alten Ägyptern heilig und unantastbar war. Indem die Israeliten vor den Augen der Ägypter ein Lamm opferten, zeigten sie, dass sie bereit waren zum Exodus, denn sie achteten das landesübliche Tabu nicht mehr. Und was ist unser Götzendienst heute? Wir tanzen um das goldene Kalb der Individualmotorisierung. Wolf Vostell hat dies in seinem auf dem Berliner Rathenauplatz aufgestellten Kunstwerk »Zwei Beton-Cadillacs in Form der nackten Maja«, um das täglich Tausende von Autos herumtanzen, präzise visualisiert. Nicht genug damit, dass der Autoverkehr täglich Menschenopfer fordert, jetzt wird er auch noch zur Ursache für den größten Menschheitsschmerz: den Hunger.
Wir fragen uns jedes Jahr beim Lesen der Auszugsgeschichte, warum sich Pharaos Herz verhärtete und können es nicht verstehen. Dabei verhalten wir uns genauso! Obwohl wir all die Argumente gegen eine Pervertierung der Landwirtschaft kennen, obwohl wir wissen, dass Lebensmittel bei steigender Weltbevölkerung niemals mehr so selbstverständlich und preiswert sein können wie in den vergangenen Jahrzehnten, obwohl wir wissen, dass sich die Zahl der landwirtschaftlichen Nutzfläche nicht beliebig ausdehnen lässt, ohne die Urwälder des Amazonas, die Teil unseres Klimagleichgewichts sind, gänzlich zu zerstören – unser Herz verhärtet sich, und wir mischen Biokraftstoffe, die nicht aus Abfallprodukten gewonnen werden, freudig in unseren Kraftstoff. Die einzigen Einwände, die lautstark gegen Biokraftstoffe zu vernehmen sind, kommen von der Autolobby: Ältere Motoren könnten unter dem Gesöff leiden. Kein Wort von Hungerkatastrophe. Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel hat ausgerechnet: Um einen der heute so beliebten Geländewagen mit 100 Litern Biokraftstoff zu füllen, muss ein Ethanolhersteller eine Viertel Tonne Weizen verarbeiten. Damit könnte ein Bäcker etwa 460 Kilo Brot backen – genug, um einen Menschen ein Jahr lang satt zu machen!
Das Judentum lehrt: Es ist nicht nur eine Sünde, ein Stück Brot wegzuwerfen, sondern es ist ebenso ein Frevel, die Grundlage unseres Seins, die Ernährung aus der Erde, durch Missbrauch der Landwirtschaft zu pervertieren. Wann immer mein gottseliger Vater, ein Auschwitz-Überlebender, ein Stück Brot, von jemandem achtlos weggeworfen, auf der Straße oder sonst wo am Boden fand, hob er es auf, gab ihm einen Kuss und flüsterte nach einem Segensspruch: »Hunger schmerzt unmenschlich.«
Vom Auszug aus Ägypten bis zum Empfang der Zehn Gebote, die die Grundbetriebsanleitung für eine funktionierende Gesellschaft sind, zählen wir 49 Tage: Es ist der Weg von der Sklaverei in die Freiheit, aus der Entmündigung in die Verantwortung. Wir sollten das Omer-Zählen dazu nutzen, über das Grundnahrungsmittel Brot und unsere Verantwortung der Schöpfung gegenüber nachzudenken.

Der Autor ist Rabbiner der Berliner Synagoge Hüttenweg und Direktor des Dokumentationszentrums »Topographie des Terrors«.

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