von Jonathan Scheiner
In Deutschland hat DJ Socalled alias Josh Dolgin noch nie gespielt. Man muss nach Paris reisen, um den dreißigjährigen Musiker zu treffen. Dabei hat die Karriere des gebürtigen Kanadiers eigentlich in der Bundesrepublik begonnen. 2003 veröffentlichte der Nachfahre osteuropäisch-jüdischer Einwanderer zusammen mit der englischen Geigerin Sophie Solomon beim Berliner Weltmusik-Label Piranha Musik das Album Hiphopkhasene und bekam dafür prompt den renommierten Preis der Deutschen Schallplattenkritik.
Der Albumtitel Hiphopkhasene war Programm: DJ Socalled feierte seine persönliche Version einer jüdischen Hochzeit (jiddisch »Chasene«), indem er die Speerspitze der internationalen Klesmerszene ins Studio lud und mit ihnen jiddische Lieder, Klesmer und Hiphop musikalisch vermählte. Als Erster holte DJ Socalled damit den Klesmer aus dem Folklore-Ghetto auf die Tanzflächen der Großstadtclubs. Mittlerweile ist das Trend geworden. Bands, die clubtauglichen, tanzbaren Klesmer spielen, sprießen wie Pilze aus dem Boden. Auch Socalled hat weitere Alben nachgelegt. Neben Bubbemeises – Lies My Gramma Told Me hat er mit dem Album The Socalled Seder. A Hip Hop Haggadah den hörbaren Beweis geliefert, dass Pessach auch in musikalischer Hinsicht eine großartige Party sein kann. In diesen Alben bedient sich DJ Socalled bei den musikalischen Ahnen, von Aaron Lebedeff und Dave Tarras bis zu Mickey Katz, die in Form von Samples und Loops interpretiert werden. Dazu nutzt er nicht nur seine Sammlung von mehreren tausend Klesmer-Platten, sondern holt sich Töne auch bei noch lebenden Klesmer-Legenden wie dem 85j-ährigen Klarinettisten Danny Rubinstein aus Florida oder dem ukrainischen Klesmer-Urgestein Arkadi Gendler.
»Aber jetzt will ich keine jüdische Musik mehr spielen!« DJ Socalled nimmt einen großen Schluck aus seinem Café Crème und lässt sich genüsslich in den Korbstuhl des Chao-Ba plumpsen, eines thailändischen Restaurants vis-à-vis der Métrostation Pigalle. Ist das ein Witz? Schließlich soll doch am nächsten Abend die lang ersehnte Wiedervereinigung von DJ Socalled und Sophie Solomon über die Bühne des Pariser Clubs Point Ephémère gehen. Warum will Socalled mit der jüdischen Geigerin wieder zusammenspielen, die gerade mit ihrem Soloprojekt Poison Sweet Madeira Erfolge feiert, wenn er doch keine jüdische Musik mehr machen will? »Wir hatten das Konzert vor langer Zeit verabredet«, rechtfertigt sich DJ Socalled, um dann noch einmal zu betonen: »Ich will raus dem Ghetto jüdischer Musik, in dem ich seit Hiphopkhasene bin. Gerade ist mein neues Album Ghettoblaster erschienen; zwei weitere neue Alben liegen fix und fertig bei meinem New Yorker Label.«
Das Label allerdings dürfte die geplante Flucht aus dem »jüdischen Musikghetto« nicht gerade erleichtern. »JDub Records« heißt der Plattenverlag. Das J im Namen steht für »Jewish«. Auch die Gruppe Balkan Beat Box und der chassidische Reggaesänger Matisyahu haben hier ihre musikalische Heimat, merke ich an. DJ Socalled korrigiert mich. Matisyahu, sagt er, ist bei »JDub Records« ausgestiegen: »Mit seiner Chabad-Lubawitscher Chassidenmasche hat er einen Vertrag bei einem Major-Label bekommen – und seither macht er kaum noch jüdische Musik.« Er lacht, bestellt einen weiteren Café Crème und rückt seine dunkle Hornbrille zurecht, mit der er aussieht wie ein groß gewordenes altkluges Kind.
Eigentlich soll man Künstlern nie widersprechen, wenn sie sich selbst definieren. Aber so goijisch wie DJ Socalled es darstellt ist sein neues Album Ghettoblaster nicht. Sicher, es gibt dort Unverdächtiges wie serbische Volkslieder, Richard Rodgers’ Broadway-Klassiker Slaughter On Tenth Avenue, das DJ Socalled solo am Piano spielt und den schön schlüpfrigen Hit Let’s Get Wet. Aber daneben steht der Song Jewish Cowboy, eine Mischung aus Rap und einem kojotenähnlich jaulenden Cowboy-Chor. Dann Border by mayn vayb, eine jiddische Großstadtballade. Und bei Rock The Belz singt kein Geringerer als die jiddische Sängerlegende Theodore Bikel im Wechsel mit dem französischen Rapper Sans Pression. Also doch jüdische Musik, triumphiere ich.
»Es gibt gar keine jüdische Musik«, kontert DJ Socalled, »nicht einmal, wenn sie von einem Juden gemacht wird. Auch Klesmer ist nur eine Mischung aus vielen unterschiedlichen musikalischen Strö-mungen aus Bulgarien, der Ukraine oder Polen. Allerdings gibt es bestimmte Rhythmen, Melodien oder Ornamentierungen, die man als jüdisch bezeichnen könnte. Jüdisch ist eher ein bestimmter Stil, eine Art und Weise, ein Lied zu spielen.«
Jüdisch oder nicht: Am nächsten Abend bringen Socalled, Sophie Solomon und sieben weitere Musiker im Point Ephémère das Publikum zum Kochen. Der letzte Schliff wurde kurz vorher beim Abendessen mit zwei arabischen Trommlern, einer kanadischen Sängerin und einem französischen Rapper angelegt. Vielleicht kommt Socalled irgendwann auch mal nach Deutschland. Vielleicht spielt er dann auch jüdische Musik.