von Ingo Way
Guten Tag, Frau Merkel!« ruft ein etwa sechsjähriges Mädchen, als die Bundeskanzlerin am Mittwoch vergangener Woche bei strahlendem Wetter vor der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg vorfährt. Zahlreiche neugierige Passanten haben sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite eingefunden. Nach der Begrüßung durch den Vizepräsidenten des Zentralrats der Juden, Salomon Korn, und den Rektor der Hochschule, Alfred Bodenheimer, lässt Angela Merkel sich die Pläne für den Erweiterungsbau der Hochschule erläutern. An das über 100-jährige Hauptgebäude soll ein moderner Glasbau angebaut werden, der die verschiedenen Standorte der Hochschule vereint. Auch das Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden soll darin untergebracht werden.
Nicht alle Anwohner sind von dem Neubauprojekt begeistert. »Uns wird zu heiß«, ist auf einem Transparent zu lesen, das am benachbarten Wohnhaus angebracht ist. Einige der Bewohner möchten ihren begrünten Innenhof nicht missen, der dem Hochschulanbau weichen müsste. Allerdings würden keineswegs alle Bewohner der Nachbarschaft diese Bedenken teilen, sagt die Persönliche Referentin des Rektors, Monika Preuß. Auch gebe es konstruktive Gespräche mit den Anwohnern. Der Baubeginn ist noch für dieses Jahr geplant.
Nach der Präsentation der Neubaupläne begeben sich Merkel und ihre Gastgeber in die wenige hundert Meter weiter gelegene Alte Aula der Universität Heidelberg. Dort widmet sich Merkel dem Hauptzweck ihres Besuchs: ein Vortrag im Rahmen der Heidelberger Hochschulreden, einer Reihe, die seit anderthalb Jahren von der Hochschule für Jüdische Studien veranstaltet wird. »Toleranz – die Basis des Miteinanders der Religionen und Kulturen« lautet das Thema der Kanzlerin. Vor dem Eingang der Alten Aula haben sich etwa zehn Studenten mit Palästinensertüchern versammelt. »Weg mit Hartz IV« und »Sozialabbau im ganzen Land – Merkel ist nicht tolerant« skandieren sie. Andere applaudieren der Kanzlerin. Doch ein ursprünglich geplanter Fototermin entfällt angesichts der gespannten Atmosphäre; Merkel und ihre Begleiter eilen rasch ins Innere.
Nach den obligatorischen Grußworten der Rektoren betritt Merkel das Rednerpult in der imposanten Alten Aula. Obwohl sie in dem sakral anmutenden Saal klein wirkt, zeigt sie erstaunliche Präsenz. Der Funke zum Publikum springt trotz oder wegen ihrer Ruhe und Bedächtigkeit rasch über. Eine wohlfeile Sonntagsrede wird es nicht, wie man angesichts des Themas hätte erwarten können. Als Resümee der deutschen G8- und EU-Präsidentschaft bezeichnet Merkel die Vielfalt als den Wesenskern Europas und als deren Voraussetzung die Freiheit. Diese sei in einer Gesellschaft der religiösen und kulturellen Vielfalt aber nur durch Toleranz möglich. Dies bedeute jedoch nicht Beliebigkeit. Intoleranz dürfe nicht toleriert werden. Merkel zitiert Thomas Mann: »Toleranz wird zum Verbrechen, wo sie dem Bösen gilt.« Und dort, fügt Merkel hinzu, wo die Freiheit bedroht wird. Als Beispiel nennt sie die Drohungen des iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad, Israel zu vernichten. Gegen ihn müsse die Weltgemeinschaft entschlossen vorgehen, hier sei jegliche Toleranz falsche Toleranz. Applaus im Auditorium.
Dass Toleranz nicht umsonst zu haben ist, dass religiöse Toleranz sich in Europa erst nach blutigen Religionskriegen im Westfälischen Frieden durchgesetzt hat, dass Religionsfreiheit nicht Antireligiosität bedeutet, man aber sehr wohl nach der Toleranzfähigkeit der Religionen fragen muss – all diese Aussagen zeigen, dass sich Merkel der Brisanz der gegenwärtigen Situation, in der ein aggressiver islamistischer Machtanspruch allzuoft auf Unentschlossenheit oder gar Verständnis auf Seiten des Westens trifft, wohl bewusst ist.
Am Ende der Rede wiederum Applaus. Merkel wird ein riesengroßer Blumenstrauß überreicht. Einer Frau im Publikum versagt der Kreislauf. Aber nicht, weil sie von dem Vortrag so überwältigt ist, sondern wegen der schlechten Luft im vollbesetzten Saal. Als die Frau ärztlich versorgt ist, stellt sich die Kanzlerin im Gespräch mit Studenten der Hochschule teils kritischen Nachfragen. Sylvia Jaworski möchte wissen, welche politischen Schritte denn ergriffen werden sollten, wenn bestimmte Personen sich der Toleranz schlicht und einfach verweigern. Merkel antwortet, dass solche Toleranzverweigerer durch soziale Ausgrenzung »moralisch bestraft« werden müssen, so dass sie zur Minderheit werden. In harten Fällen müsse aber auch das Strafrecht greifen. Obwohl niemand beim Namen genannt wird, denkt man hier in erster Linie an Rechtsradikale. Doch da jeder weiß, dass am folgenden Tag der Integrationsgipfel beginnen wird, den namhafte türkische Verbände boykottieren, lässt sich die Rede von den »Verweigerern« auch als Anspielung darauf verstehen.
Anton Davydov fragt, welche Rolle Absolventen der Hochschule für Jüdische Studien spielen können, wenn es um die Vermittlung von Toleranz geht. Die Kanzlerin lobt die Hochschule ausdrücklich als einen Ort, an dem Toleranz eingeübt werden könne, weil hier jüdische und nichtjüdische, deutsche und ausländische, religiöse und nichtreligiöse Menschen zusammenkommen. Auch einige muslimische Studenten sind hier eingeschrieben. Merkel bedauert es ausdrücklich, dass eine jüdische Hochschule, die eine solche Breite an Wissen vermittle, auch nach beinahe 30 Jahren immer noch eine Einmaligkeit in Europa darstellt. Sie wünscht sich, dass die Hochschule noch viel mehr auch internationale Ausstrahlung gewinnt.
Zum Ende betont Merkel, dass die Grundlage aller Toleranz das Selbstbewusstsein der eigenen Identität sei. Das Andere bleibe bei aller Toleranz – das Andere. Davydov hält dieses Konzept von Toleranz jedoch für ein wenig gönnerhaft. Er möchte nicht bloß als der »Andere« geduldet, er möchte als Jude ein integraler Teil der deutschen Gesellschaft sein. Merkel stimmt zu. Genau so wolle sie Toleranz verstanden wissen.