Terrorismus

Der Feind ist unter euch

von Tobias Kaufmann

Dann dreht er sich nach rechts, fixiert seine eben noch feixenden politischen Widersacher und sagt mit klarer Stimme: »Ich habe erwartet, daß von dieser Seite heute ein Wörtchen falle, um einmal auch die in Ihren eignen Reihen zu einer gewissen Ordnung zu rufen, die an der Entwicklung einer Mordatmosphäre zweifellos persönlich Schuld tragen.«»Sehr richtig!«, rufen einige Abgeordnete. »Wo ist ein Wort gefallen von Ihrer Seite gegen das Treiben derjenigen, die die Mordatmosphäre tatsächlich geschaffen haben?«, fährt der Redner fort. Lebhafter Beifall und Zurufe.
Fünf Jahre nach den Anschlägen vom 11. September 2001, nach der palästinensischen Al-Aksa-Intifada und inmitten des Terrors von islamistischen Mordbanden, die durch verhohlene und offene Zustimmung berauscht sind, würde man sich wünschen, daß die beschriebene Szene heute passierte. Daß der Redner ein arabischer Führer wäre, ein Ministerpräsident oder ein König – einer jedenfalls, der über alle Zweifel erhaben ist. Doch die Szene ist 84 Jahre alt. Der Redner hieß Josef Wirth.
Am 25. Juni 1922 hielt der damalige Reichskanzler eine der brillantesten Reden in der Geschichte des deutschen Parlamentarismus. Einen Tag, nachdem Außenminister Walther Rathenau von Rechtsradikalen erschossen worden war, blickte Wirth den rechten Abgeordneten ins Gesicht und sagte: »Da steht der Feind, der sein Gift in die Wunden eines Volkes träufelt: Da steht der Feind – und darüber ist kein Zweifel, dieser Feind steht rechts.«
Wirth war kein Linker. Er war ein Politiker des katholischen Zentrums, ein Nationalgesinnter, der die aus seiner Sicht ungerechten deutschen Gebietsverluste und Re- parationen nach dem Ersten Weltkrieg kritisierte – auch an jenem Tag im Reichstag. Die Metapher von der »Wunde eines Volkes« nimmt diese Überzeugung auf. Dennoch wußte Wirth, daß die Feinde der Demokratie nicht in Frankreich saßen, nicht in England, sondern vor ihm. Wirth wußte es – und sprach es offen aus.
Die von Wirth beklagte »Mordatmosphäre« erinnert heute an den Zustand vieler Gesellschaften in der islamischen Welt. Gesellschaften, die sich – zu Recht oder zu Un- recht – erniedrigt fühlen, verwundet. Völker, die von erloschenem nationalen Glanz träumen. Und die diesen Glanz mit einer rückwärtsgewandten und zugleich verlockend dynamischen Bewegung zurückholen wollen: dem »Gift« des Islamismus. US-Präsident George W. Bush hat die Terroristen unserer Tage kürzlich als islamische Faschisten bezeichnet. Er hat recht mit dem historischen Vergleich: Der Islamismus ist wie Nationalsozialismus und Stalinismus eine totalitäre Bewegung der Moderne.
Das bedeutet nicht, daß diese Ideologien gleich wären, oder daß der moderne Terrorismus gleichzusetzen wäre mit der Schoa. Und doch teilen alle Totalitarismen die Fixierung auf einen paradiesähnlichen Endzustand der Welt. Auf dem Weg dorthin sind Opfer nicht zu vermeiden – was einst verhungernde Bauern in den russischen Weiten waren, sind heute muslimische Zivilisten, die von Terroristen mit in den Tod gerissen werden. Es kümmert die islamistischen Fanatiker nicht, daß die Mehrheit ihrer Opfer Glaubensbrüder sind. Leidtragende sind auch Volkswirtschaften wie die Tür- kei oder Ägypten, die für islamistische Bedrohungen und Attentate mit schwindendem Tourismus und zurückgehenden ausländischen Investitionen teuer bezahlen. Die Totalitarismen versprechen Erlösung und enden in Selbstzerstörung: So wie der Nationalsozialismus nicht die Blüte des Deutschtums bedeutete, sondern dessen spektakuläres Verglühen, so markiert der Islamismus nicht den Neuaufbau eines »Hauses des Islam«, sondern dessen Abriß. Die totalitären Weltanschauungen eint die Wahnvorstellung, man müsse bestimmte Menschen umerziehen, gar beseitigen, um nach Utopia voranschreiten zu können: Untermenschen, die Bourgeoisie und – immer wieder – die Juden. Vernichtungsbereiter Judenhaß ist die frappierendste Übereinstimmung zwischen Nationalsozialis- mus und islamischem Faschismus.
»Wie jeder Totalitarismus wird der Islamismus durch Angst und Frustration genährt«, heißt es in einem Manifest, das zwölf Intellektuelle Anfang dieses Jahres veröffentlichten, meist im Westen lebende Muslime wie der Schriftsteller Salman Rushdie. »Wir stellen klar und entschlossen fest: Nichts, auch nicht die Verzweiflung, rechtfertigt es, Obskurantismus, Totalitarismus und Haß zu wählen«, heißt es darin. »Islamismus ist eine reaktionäre Ideologie, die, wo immer vorhanden, Gleichheit, Freiheit und Säkularisierung beseitigt.«
Der Text macht deutlich, daß die islamistische Bewegung größer ist als die lose operierenden Mordzellen auf der ganzen Welt. Der Terror ist nackte Kriminalität, inhaltslose Mordlust radikaler, junger Männer, die bis hin zu ihrem Toten- und Opferkult an Eliten-Nazis erinnern. Dennoch ist der Terror mehr. Er ist der »bewaffnete Arm« des Islamismus, jener Teil der Bewegung, der ein paradiesisches Kalifat herbeibomben will. Mögen dessen Anhänger auch eine verschwindende Minderheit unter den Muslimen ausmachen, so stützt sie sich dennoch auf ein stabiles System aus Wegsehern, Symphatisanten und Helfern. »Die schmerzhafte Wahrheit: Alle Terroristen der Welt sind Muslime« titelte die in London erscheinende arabische Zeitung Asharq al-Awsat nach dem Massaker von Beslan vor zwei Jahren. Das trifft einen Kern, den viele nicht wahrhaben wollen. Abseits realer regionaler Konflikte, die manchmal Grundlage, meist Vorwand des Terrors sind, haben wir es mit Mörderbanden zu tun, denen es egal ist, welches Land gerade in den Irak einmarschiert ist, und welches nicht. Die politisch-soziale Bewegung Islamismus als ideologischer Überbau des Terrors verfügt über große Akzeptanz. Viele arabische Staaten würden von Islamisten regiert, wenn die Menschen dort frei wählen dürften – der Wahlsieg der Hamas war nur ein Beispiel.
»Kampf der Kulturen« ist nicht die passende Beschreibung für den Konflikt. Der Riß geht mitten durch die islamische Gemeinschaft. Die totalitäre Bewegung kann auf charismatische Persönlichkeiten wie Al Kaidas Ikone Osama bin Laden zurückgreifen. Ein Mann, der aus wenig Gift eine Massenvernichtungswaffe machen kann – wie Hitler, wie Stalin. Der muslimischen, anti-islamistischen Bewegung fehlt so eine Persönlichkeit. Jemand, der Selbstmitleid und Schuldabwehr in der islamischen Welt beendet, die Tendenz, alles Unglück anderen in die Schuhe zu schieben. Jemand, der aufsteht und sagt: »Da steht der Feind!« – und nicht auf Bush, den »ewigen Juden« oder den Papst zeigt, sondern auf Bin Laden, Irans Staatschef Ahmadinedschad, Hisbollahführer Nasrallah und ihre Parteigänger in Parlamenten, Amtsstuben und Redaktionen. Jemand wie Josef Wirth.
Zwar hat zu Weimarer Zeiten dessen Intervention nicht verhindern können, daß der Mord am deutschen Juden Walther Rathenau nicht das Ende, sondern der Auftakt der deutschen Raserei war. Dennoch bleibt Wirths Beispiel lebendig. »In diesem Sinne müssen alle Hände, muß jeder Mund sich regen, um endlich diese Atmosphäre des Mordes, des Zankes, der Vergiftung zu zerstören«, rief Wirth am Ende seiner Rede. Diese Aufforderung zu Demokratie und Freiheit ist auf die islamische Welt übertragbar, weil auch heute Heilung nur von innen kommen kann. Die islamische Welt selbst ist dafür zuständig, den Terror und seinen ideologischen Überbau auf jenen Friedhof der Geschichte zu bringen, auf dem seine totalitären Vorgänger, trotz aller Zuckungen, bereits liegen. Der Westen muß die Stimmen aller islamischen Autoritäten verstärken, die dies verstanden haben. Er muß sich auf seine Werte besinnen, attraktiv und leuchtend sein und zugleich Terror bekriegen. Kurz: Der Westen muß Islamisten mit einem Mix jener Mittel bekämpfen, mit denen er Nazis und Stalinisten zu Fall brachte. Besiegen aber können den islamischen Totalitarismus nur jene Gesellschaften, denen dieser Wahn entwachsen ist.

Kultur

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