von Wladimir Struminski
Militärgeschichte ist auch die Geschichte von Anpassungen der Kriegsdoktrin an Fortschritte der Waffentechnik. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs mussten Armeen, die sich nicht rechtzeitig auf den Bewegungskrieg eingestellt hatten, im Kampf gegen Deutschland schwere Niederlagen hinnehmen. Daraus hat Israel gelernt. Das kleine Land gehört bei der Bewaffnung wie bei innovativer Kriegsführung zu den führenden Nationen der Welt. Gegenwärtig aber stehen die israelischen Strategen vor einem noch ungelösten Problem: der Bedrohung durch Raketen. Die Raketengefahr für Israel, so die Militärexperten Yiftah Shapir und Shlomo Brom vom Tel Aviver Studieninstitut für nationale Sicherheit (INSS) in einer jüngst veröffentlichten Analyse, nimmt unterschiedliche Formen an. Während der »zweiten Intifada« kam es im Jahr 2001 erstmals zum Abschuss palästinensischer Kassam-Raketen aus dem Gasastreifen auf israelisches Staatsgebiet. Seitdem haben die palästinensischen Terrororganisationen die Qualität ihrer in Heimarbeit hergestellten Raketengeschosse verbessert. Auch wenn die Kassams im Vergleich zu anderen Waffen relativ geringe Verluste verursachen, machen sie ein normales Leben im vom Beschuss betroffenen Gebiet unmöglich und sind damit eine geeignete Terrorwaffe.
Mehr als bloße Nadelstiche bewirken die von den Palästinensern in jüngster Zeit ebenfalls eingesetzten Kurzstreckenraketen von Typ Grad. Mit einer Reichweite von 20 Kilometern – in wenigen Jahren dürften es nach Einschätzung des israelischen Militärnachrichtendienstes 40 Kilometer sein – können sie nicht nur Hunderttausende von Israelis in Schach halten, sondern auch strategisch wichtige Anlagen wie Militärbasen, Häfen oder Raffinerien treffen. Beim Abschuss aus dem Westjordanland könnte auch Israels einziger internationaler Flughafen, Ben-Gurion, außer Betrieb gesetzt werden. Wie gefährlich Kurzstreckenraketen werden können, hat vor zwei Jahren der Libanonkrieg bewiesen, in dem Tausende von Katjuscha-Raketen der Hisbollah den israelischen Norden lahmlegten und Hunderttausende von Israelis zur Flucht zwangen. Seitdem hat die Hisbollah ihre Raketenarsenale wieder aufgefüllt.
Unter diesen Umständen wird wirksame Abwehr gegen den Raketenbeschuss zu einer vordringlichen Aufgabe. Die als Alternative theoretisch denkbare dauerhafte Besetzung von Gasa und Südlibanon wäre kaum praktikabel. Auch vor Vergeltungsbombardements haben die Terroristen keine Angst. Deshalb arbeitet Israels Rüstungsindustrie mit Volldampf an einem Raketenabwehrsystem, das »Eiserne Kuppel« (Kipat Barsel) genannt wird. Laut einem Bericht des israelischen Rundfunks hat dieses Abwehrsystem Anfang Juli bereits in einem erfolgreichen Testlauf seine Flugfähigkeit erwiesen. Nun soll die »Eiserne Kuppel« schon im nächsten Jahr einsatzbereit sein und nicht erst, wie ursprünglich geplant, 2010. Das 155 Millionen Euro teure Programm hatte die israelische Regierung im Februar beschlossen.
Das Abwehrsystem kann Raketen mit einer Reichweite von vier bis 70 Kilometer abfangen. Allerdings hat die »Kuppel« auch Löcher und ist auf Kürzestflugstrecken – etwa von Gasa nach Sderot – unwirksam. Bis eine abgefeuerte Kassam geortet wird und das auf sie gerichtete Abwehrprojektil abgeschossen wird, werden laut öffentlich zugänglichen Schätzungen bis zu 30 Sekunden vergehen. Für israelische Ortschaften in unmittelbarer Nähe der Grenze zum Gasastreifen ist das ein viel zu langer Zeitraum: Eine im Norden des Gasastreifens abgefeuerte Kassam-Rakete ist nur zehn bis 15 Sekunden unterwegs, bevor sie in Sderot einschlägt. Zudem ist das System im Einsatz viel teurer als die billigen Kassams. Arbeiten an einer Laserabwehr hat Israels Regierung vor einigen Jahren eingestellt, doch gelten Laserkanonen vielen Experten als die zukunftsträchtigere Raketenabwehr.
Ein weiterer Spieler im Raketenpoker ist Syrien. Im vergangenen Jahr hat Damaskus gedroht, Hunderte von ballistischen Raketen auf Israel abzufeuern. Die syrischen Raketen können auch mit chemischen Gefechtssprengköpfen bestückt werden, hat doch Syrien, so das Washingtoner Institut für Nahostpolitik, »das wahrscheinlich umfassendste und am weitesten fortgeschrittene Chemiewaffenprogramm in der arabischen Welt«. Zwar könnte, so Shapir und Brom, die Aussicht auf einen Vergeltungsschlag Damaskus in Schach halten, doch bleibt eine wirksame Abwehr gegen die syrische Raketengefahr dringend geboten.
Das gilt erst recht für den Iran. Mit der Schihab 3 verfügen die iranischen Streitkräfte über einen Raketentyp, der Israel erreichen kann. Zwar kann eine mit herkömmlicher Sprengladung ausgestattete Schihab keine Schlachtentscheidung herbeiführen, doch das ist kein Trost, ganz im Gegenteil. Damit sich ein Raketenangriff auf Israel aus iranischer Sicht lohnt, glauben die INSS-Experten Ephraim Asculai und Emily Landau, müssten die Schihabs oder ihre Nachfolgemodelle atomar bestückt sein. Nun verfügt Israel über Abwehrraketen vom Typ »Chetz«, die zumindest einen Teil der angreifenden irani- schen Raketen abfangen können. Allerdings ist ein Teil beim atomaren Angriff nicht genug. Zudem glauben Nachrichtendienste, dass sich die Iraner sowjetische Marschflugkörper aus der Ukraine besorgt haben und sie kopieren wollen. Gegen Cruise Missiles aber ist das ursprünglich als Schutzschild gegen irakische Scuds entwickelte Chetz-System unwirksam. Damit rückt die physische Vernichtung des jüdischen Staates zumindest langfristig in den Bereich des militärisch Möglichen.
Daher könnte sich die israelische Regierungs- und Militärspitze zu einem Präventivschlag gegen das iranische Atomwaffenprogramm genötigt sehen. Laut einem Be- richt des amerikanischen Fernsehsenders ABC hält das US-Verteidigungsministerium einen israelischen Angriff auf iranische Atomanlagen noch vor Ende dieses Jahres für möglich. Wie Israel die gewaltigen dabei anfallenden operativen Schwierigkeiten überwinden würde, behalten die Militärplaner für sich. Dennoch könnte gelten: Wer zu spät bombt, den bestraft das Leben.