von Wladimir Struminski
Keine jüdische Gemeinde ohne Synagoge. So kennt man es aus der Geschichte. Wo immer Juden lebten oder sich neu ansiedelten, folgte der Bau des Gotteshauses auf dem Fuße. Selbst den »Dreitagesjuden«, die die Synagoge nur an den Hohen Feiertagen aufsuchen, ist sie lieb und teuer. Synagogen gab es bereits vor der Zerstörung des Zweiten Tempels durch die römischen Legionen: Sie ersetzten das Heiligtum nicht, ergänzten es jedoch.
Kann es aber sein, dass die Juden in Israel nach dem Fall des Tempels den Synagogenbau einstellten und erst in der byzantinischen, also christlichen, Ära wieder aufnahmen? Nach Ansicht eines Teils der israelischen Archäologen wäre das möglich. Schließlich, so ihre Argumentation, gebe es keine eindeutigen Funde, die die Entstehung von Synagogen im Lande Israel in den ersten Jahrhunderten nach der Zeitenwende belegten. Zwar werden in der religiösen Literatur der Epoche zahlreiche Synagogen erwähnt. Allerdings sei das kein hieb- und stichfester Beweis. Selbst die rund 30 in Galiläa gefundenen Synagogenstätten ließen sich nicht eindeutig der römischen Ära zuordnen. Möglicherweise wurden sie erst ab dem fünften und sechsten Jahrhundert gebaut, und zwar als Reaktion auf den christlichen Kirchenbau.
Kurzum: In der Geschichte der Synagoge gibt es, um einen Begriff der Evolutionsbiologie zu übernehmen, ein fehlendes Bindeglied, das »missing link«. Und dieses glaubt Uzi Leibner, Archäologe an der Hebräischen Universität in Jerusalem, gefunden zu haben. Ort dieses dramatischen Ereignisses ist Chirbet Chamam, ein einstmals von Juden bevölkerter Ort am Hang des Berges Nitai, zwei Kilometer westlich des Kinneret-Sees.
Das Besondere an Chirbet Chamam – der ursprüngliche Name der Siedlung ist nicht überliefert – ist die Tatsache, dass der Ort Mitte des fünften Jahrhunderts verlassen wurde. Die jüngsten in der Synagoge gefundenen Artefakte stammen aus dem dritten oder vierten Jahrhundert. Darunter verbergen sich ältere Schichten. Insofern lässt sich das Gotteshaus eindeutig, quasi unter Laborbedingungen, der vorbyzantinischen Ära zuordnen. Ausgrabungsleiter Leibner ist überzeugt, dass auch die anderen galiläischen Synagogen in die römische Zeit fallen. Das belegt er mit architektonischen Merkmalen ebenso wie mit dem gesunden Menschenverstand. Schließlich hätten die jüdischen Autoren der späten römi- schen Ära die von ihnen geschilderten Synagogen in Galiläa wohl nicht einfach erfunden. »Wenn die bisher gefundenen Synagogen aus der byzantinischen Zeit stammen«, verficht Leibner seine These, »stellt sich die Frage, wohin die in den Quellen geschilderten Synagogen der Römerzeit verschwunden sind«. Zudem, fügt er hinzu, habe jüdisches Leben in Galiläa im zweiten und dritten Jahrhundert geblüht – ein weiteres Indiz dafür, dass in dieser Zeit Synagogen gebaut wurden. Dennoch freut sich der Altertumsforscher über den Fund von Chirbet Chamam. Damit nämlich seien die Skeptiker erstmals anhand eines konkreten Beispiels schlüssig widerlegt.
Der Fund ist noch aus einem weiteren Grund eine Besonderheit: In der Synagoge wurde ein einmaliger Mosaikboden freigelegt. In einem gut erhaltenen Teil des Steinchengemäldes sind Bauhandwerker bei der Arbeit abgebildet: zwei mit Sägen, einer mit einem Hobel und ein weiterer mit einem Tischlerhammer. Auch drei Lastenträger sind im Bild, zwei von ihnen auf einer Baurampe, der dritte mit seiner Last auf der Schulter. Wohl waren Bauszenen in der römischen Kunst zur Illustration des Alltagslebens weit verbreitet. In Synagogen, wie in der jüdischen Kunst jener Zeit schlechthin, so Leibner, ist ein solches Motiv indessen präzedenzlos. Daher sei nach seiner Bedeutung zu fragen. Da das Bildnis ein Gotteshaus schmückte, schreibt ihm der Archäologe sakralen Inhalt zu: Allem Anschein nach wurde im Gotteshaus der Bau des ersten (salomonischen) Tempels in Jerusalem gezeigt. Nun aber ist bekannt, dass der Tempelbau auch in frühchristlichen Kirchen ein beliebtes Kunstmotiv war. Wurden die Synagogenbauer von Chirbet Chamam also doch vom Christentum beeinflusst?
Wahrscheinlich ja, allerdings auf dem Wege des Widerspruchs. »Wenn Christen den Tempel abbildeten«, berichtet Leibner, »wollten sie zeigen, dass dieser von der Kirche abgelöst wurde«. Dem gegenüber fassten die Künstler am Berg Nitai den Tempelbau als Bekräftigung, und nicht etwa als Widerlegung des jüdischen Gottesglaubens auf. Somit ist das Mosaik ein Indiz für den Kulturkampf, den sich die beiden monotheistischen Religionen im Heiligen Lande lieferten. In dem Kunstwerk spiegelt sich möglicherweise auch die Hoffnung auf ein baldiges Kommen des Messias wider; nach einer in der damaligen Zeit verbreiteten Überlieferung wurde dieses Ereignis nämlich in das dem Fundort nahe gelegene Arbel-Tal projiziert. Wie auch immer: Chirbet Chamam harrt einer gründlichen Erforschung und lässt auf neue Erkenntnisse über die Entwicklung des Judentums nach dem Tempelfall hoffen.