von Sabine Brandes
Rose war ihr Name. Rosig war ihr Leben nicht. Es ist der Stoff, aus dem Albträume entstehen: Nach Jahren der Misshandlungen und Vernachlässigung wurde das kleine Mädchen vermutlich vom eigenen Großvater, gleichzeitig der Liebhaber ihrer Mutter, getötet. Anschließend will er den Körper in einen Koffer gepackt und in den Jarkon-Fluss geworfen haben. Doch gibt es keine Spur von dem Kind. Die Polizei sucht fieberhaft, während Kameras jede Bewegung begleiten.
Noch nie hat eine Kriminalgeschichte in Israels Geschichte derart viel Aufmerksamkeit erregte. Kein Tag, an dem nicht in endlosen Artikeln jedes Detail – eines hässlicher als das andere – ans Licht gezerrt, im Radio und Fernsehen debattiert und analysiert wird. Vergangene Woche erst widmete die große Tageszeitung Yedioth Ahronoth der Geschichte den Titel plus 17 Seiten unter der Schlagzeile »Rose – das Mädchen, das niemand wollte«.
So abscheulich der Fall ist, so medial wirksam ist er: Vor vier Jahren ist Rose als Kind von jüdischen Teenagern in Frankreich geboren worden. Vater Benjamin Pi-
sem hatte seinen eigenen Vater, einen Israeli, nie getroffen. Nach der Geburt der Tochter wollte er das nachholen. Gemeinsam mit seiner Frau Marie-Charlotte Renault und dem Baby reiste er nach Israel. Die kleine Familie blieb monatelang. Am Ende des Aufenthalts verkündeten Renault und ihr Schwiegervater Ronny Ron, dass sie sich verliebt hätten. Pisem und Rose kehrten allein nach Frankreich zurück. In den folgenden Jahren lebten Renault und Ron in Netanja, bekamen zwei Töchter. Bis Renault erfuhr, dass ihr Ex-Mann die gemeinsame Tochter in Frankreich so sehr misshandelte, dass sie wiederholt ins Krankenhaus kam. Sie klagte alleiniges Sorgerecht ein und brachte das Mädchen nach Israel. Fatal. Zuerst wurde sie zur Ur-Großmutter abgeschoben, schließlich getötet.
Seit Wochen hält der »Fall Rose« das Land im eisernen Griff. Es ist ein Griff, der schmerzhafter und kälter nicht sein könnte. Vertreter der Polizei ließen wissen, sie hätten bei keinem anderen Fall derartige Bauchschmerzen gehabt. Ein Minister verkündete: »Wir waren nicht da, als Rose uns brauchte«. Israel windet sich im kollektiven Gefühl des Mitleids und der Ab-
scheu. Aber ist es wahre Bestürzung oder geht es eher darum, das Gewissen zu beruhigen und alles, was im Argen ist, auf einen einzigen Fall abzuwälzen, damit man nur nicht wirklich sehen muss?
Erhitzt diskutiert die Öffentlichkeit, wie es sein kann, dass ein unschuldiges Kind gänzlich durch das Netz der Gesellschaft fällt. Eine Gesellschaft, die sich nach wie vor für besonders warm und aufmerksam hält, wo alle Nachbarn ›ja eine einzige große Familie sein wollen. Der Fall Rose mag besonders abscheulich sein, ein Einzelfall ist er nicht. Vergangene Woche ertränkte eine Mutter ihren Sohn (4) im Mittelmeer, weil »er störte«. Verstörende Fernsehbilder von Kleinkindern, die mutterseelenallein auf den Straßen Bnei Braks herumirren, gelangen diese Woche in die Wohnzimmer.
»Die Leute hier erzählen sich gern, dass in den USA niemand hinschaut, wenn jemand auf der Straße umfällt«, sagte Oded Ben Ami, Sprecher der 6-Uhr-Fernsehnachrichten auf Kanal Zwei, als er über Rose berichtete, und jetzt hätten die Israelis Angst, dass auch sie dort ankommen. »Wir sind schon längst da«, weiß die Soziologin Rachel Pasternak. Die Autorin zahlreicher Bücher zur israelischen Gesellschaft und Familie lehrt Sozialverhalten am College für Management in Rischon Le Zion.
Zum einen gebe es die jüdische Familie, erläutert sie, die nach wie vor einen hohen Stellenwert in Israel habe, die Geburten sind bei einer Rate von 2,7 zahlreich, Scheidungen mit 30 Prozent vergleichsweise gering. Gleichzeitig gebe es in der Gesellschaft keine Gemeinsamkeiten mehr, »es fehlt an Solidarität und kollektiven Zielen, jeder ist für sich«. Das Große ist ein Spiegelbild des Kleinen.
In den 50er-Jahren noch sei das Kind der absolute Mittelpunkt gewesen, hiernach richtete sich alles aus, so Pasternak. »Heute indes arbeiten Mutter und Vater in fast jeder Familie bis abends, haben weder Zeit noch Geduld für ihre Sprösslinge. Schon die Babys werden den ganzen Tag irgendwo untergebracht und regelrecht abgeschoben. Die Eltern kümmern sich zuerst um sich selbst und ihre persönlichen Bedürfnisse, statt um die ihres Nachwuchses.« Zudem hätte die Aufsicht des Staates über das Wohlergehen der Kinder in den vergangenen Jahrzehnten stark nachgelassen. Kapitalismus und Individualismus seien in Israel angekommen, der Preis dafür seien die Kinder. »Wir bewegen uns ganz klar in Richtung westliche Welt, wo diese schreck-lichen Dinge gang und gäbe sind«, ist die Expertin überzeugt.
Zwar würden sich derzeit alle angesichts der Geschichte der kleinen Rose betroffen geben, doch ändern werde sich nichts, dessen ist sie sicher. »Jetzt sagen sie ›ach wie schrecklich‹, doch bald wird der nächste Fall kommen und dann der nächs-te und nächste.« Noch immer möchte sich die Gesellschaft als außergewöhnlich in der Welt sehen, das intakte Bild der liebenden Gemeinschaft mit jüdischen Familienwerten wird nach wie vor in rosigen Farben ausgemalt. »Aber es existiert nicht mehr«, zeichnet die Soziologin ein düsteres Bild, »es ist in tausend Stücke zerbrochen«.