von Andreas Wildhagen
»Russland benutzt Erdgas als Waffe.« Dieses im vergangenen Jahr gesprochene Orakel des amerikanischen Vizepräsidenten Dick Cheney brachte nicht nur die Ängste der amerikanischen, sondern gerade auch der europäischen Öffentlichkeit auf den Punkt. Bis dahin galt das saubere russische Erdgas als unproblematische Alternative zu teurem Öl und schmutziger Kohle. Doch 2006 kam die Bewusstseinswende. Russlands Energiekonzern Gazprom erhöhte den Gaspreis für die Ukraine praktisch über Nacht um 300 Prozent – ein Schock für die energiehungrige westliche Welt. Kann, was der Ukraine passierte, auch Deutschland widerfahren? Die bange Frage stand im Raum. Energiepolitiker und Erdgasmanager wollen nicht vom russischen Erdgastropf abhängig bleiben. Die Ostseepipeline, die 2011 eröffnet werden soll und deren Bau immer noch von Schwierigkeiten mit den Anrainern, etwa Schweden und Polen, verzögert wird, soll nicht die einzige Verbindung der rohstoffarmen Länder wie Deutschland und Benelux zum Erdgas sein.
Der geplante Ausweg: ein Pipelineprojekt namens Nabucco. Was verbirgt sich dahinter? Der Name soll bei einem Zechgelage internationaler Energiemanager in einer Hotelbar erfunden worden sein. Warum man dabei ausgerechnet an Nebukadnezar dachte, daran will sich heute keiner mehr erinnern. Die geplante 3.400 Kilometer lange Pipeline, deren Kosten zuerst auf fünf, jetzt auf neun Milliarden Euro veranschlagt wurden, soll zwei Jahre nach der Ostseepipeline, im Jahr 2013, in Betrieb genommen werden. Die Umgehung russischen Staatsgebietes ist ihr eigentlicher Sinn – sie wird, so die Planung, Erdgas aus Zentralasien über die Türkei nach Österreich und von dort nach Deutschland transportieren. Dabei ist die technische Umgehung des Kaspischen Meeres wichtig, um Erdgas aus Turkmenistan oder Kasachstan zu transportieren. Denn ähnlich wie die Ostseepipeline hat auch Nabucco Probleme mit der Baugenehmigung – die Querung durch das Kaspische Meer ist politisch umstritten.
Die Gegner von Nabucco sitzen nicht nur am Kaspischen Meer. Gegen das Projekt wettern auch die künftigen Betreiber der Ostseepipeline – die deutschen Erdgashändler Wintershall, Eon Ruhrgas und die russische Gazprom –, sowie die USA und Israel. Nabucco könnte nämlich einen Abzweig in den Iran erhalten. Dort schlummern die größten Erdgasvorkommen der Welt. Aber das Mullah-Regime wollen weder Washington und erst recht nicht Jerusalem durch einen lukrativen Langfristvertrag mit den Nabucco-Betreibern gestärkt wissen. »Nabucco wird keine Abzweigung in den Iran bekommen«, beschwichtigen die Betreiber. Aber die Pipeline touchiert den Iran fast, und eine technische Autobahnausfahrt für das Erdgas ist in der Pipeline schon vorgesehen – auf dem Papier.
Zu je einem Sechstel sind an Nabucco nicht nur der österreichische Energieriese OMV und die ungarische MOL beteiligt. Auch die Rheinisch-Westfälischen Electricitätswerke (RWE), zweitgrößter Versorger Deutschlands, sind zu gleichen Teilen mit von der Partie. Der Erdgas-Chef von RWE, Stefan Judisch, hat jüngst in Essen Ehrgeiziges angekündigt: »Wir wollen zu den führenden Erdgasunternehmen aufschließen und unseren Erdgasbezug um 50 Prozent auf annähernd 60 Milliarden Kubikmeter im Jahr aufstocken.« 31 Milliarden Kubikmeter davon sollen durch die Nabucco-Röhre rauschen. Nach den Worten der RWE-Manager ist Nabucco »ein Meilenstein« in der Gasstrategie. Dagegen könnte keiner etwas haben, wenn da nicht die mögliche und gar nicht so kleine Abbiegung ins Reich von Mahmud Ahmadinedschad wäre.
Viele Erdgas-Experten zweifeln nämlich daran, ob Turkmenistan überhaupt genug Gas hat für Nabucco. Die Vorkommen werden von der dortigen Regierung gern ins Unermessliche hochgerechnet, das Land hofft auf Milliardeneinnahmen. »Ohne Iran lohnt sich Nabucco nicht«, sagte kürzlich ein hochrangiger Shell-Manager. Shell musste in den vergangenen Monaten ein ehrgeiziges Erdgasprojekt im Iran einfrieren – nach massiven Interventionen des Weißen Hauses. Baut RWE also auf Sand, wenn sie glaubt, künftig ihre deutschen Kunden mit Nabucco-Erdgas zu wärmen?
Das Projekt wirkt fast wie ein Schildbürgerstreich. Der Transport von Zentralasien nach Europa muss technische Klippen umschiffen. Ingenieure arbeiten an einem Verfahren, Gas aus Turkmenistan und Kasachstan zu komprimieren, dann auf einen Tanker zu verladen und über das Meer zu schippern. Erst dann soll der Stoff in die Pipeline eingespeist werden. Die technisch ausgeklügelte Lösung, die Leitung unter dem Kaspischen Meer zu verlegen, sieht allerdings mehr nach Daniel Düsentrieb aus als nach Nebukadnezar. Immer weniger Experten glauben deshalb an Nabucco.
Vom Zweifel werden offenbar auch die Konsortialmitglieder befallen. Während Österreichs Außenministerin Benita Ferrero-Waldner mit der turkmenischen Regierung die Rahmenbedingungen für einen Gasliefervertrag aushandelte, glaubt OMV-Chef Wolfgang Ruttenstorfer offenbar schon nicht mehr ans Gelingen. Ruttenstorfer kündigte vor einigen Wochen in Wien bei einem Festakt gemeinsam mit Gazprom an, sich an einem Verteilerknoten einer ganz anderen Pipeline zu beteiligen – der Gazprom-Ader South-Stream, die in direkter Konkurrenz zu Nabucco steht. Ruttenstorfers Fast-Kehrtwende wird dadurch pikant, dass die OMV als Konsortialpartner die Federführung bei Nabucco hätte. Wissen das die RWE-Manager schon?
Das Essener Unternehmen steht dennoch zu Nabucco. Nach der plötzlichen OMV-Liebeserklärung an Gazprom sekundierte MOL-Chef Zsolt Hernadi: »Wir brauchen die Russen als Partner, nicht als Feind.« Hernadis Argumentationshilfe für OMV kam überraschend, denn er mag Ruttenstorfer eigentlich nicht, der MOL kürzlich mit viel Geld schlucken wollte. Und auf einmal, Ende Mai, störte auch der türkische Energieminister Hilmi Güler die Nabucco-Träumereien. Er verlangte, einen großen Teil des Erdgases, das durch die Nabucco-Leitung des türkischen Energieunternehmens Botas geht, im eigenen Land vermarkten zu können. Bisher war die Türkei ausschließlich als Transitland vorgesehen. »Es hat doch keinen Sinn, einen Großteil des für Westeuropa bestimmten Gases bereits in Ankara abzuzweigen«, sagte ein Energiemanager kürzlich hörbar entnervt. Und dann stichelte auch noch der russische EU-Botschafter Wladimir Tschischow: »Wenn die EU Nabucco auslasten will, dann wird sie iranisches Gas kaufen müssen. Das aber ist unvereinbar mit dem vom Westen propagierten Wirtschaftsboykott gegen Teheran.«