von Lea Himelfarb
Wie lang war der Zeitraum, den die Israeliten in der ägyptischen Sklaverei verbrachten? Zu dieser Frage gibt es vollkommen unterschiedliche Zahlenangaben. Im Tora-Abschnitt dieser Woche lesen wir: »Und die Aufenthaltszeit der Kinder Israel, die sie in Mizrajim zugebracht hatten, betrug 430 Jahre« (2. Buch Moses 12, 40). Beim Bundesschluß mit Abraham heißt es dagegen: »Wissen sollst du, daß Fremdling sein wird dein Same in einem Land, das nicht das ihre; und sie werden Sklaven sein, und man wird sie bedrücken 400 Jahre« (1. Buch Moses 15, 13).
Aus dem Vers im 1. Buch Moses wird im Allgemeinen abgeleitet, daß die Sklaverei 400 Jahre dauerte. Diese Auslegung stützt sich auf die Pause nach den Worten »nicht das ihre«. Hierbei handelte es sich um eine logisch-syntaktische Pause im Vers, die die beiden Satzsubjekte voneinander trennt, in diesem Fall die Israeliten und die Ägypter.
Diese Lesart und die auf ihr aufbauende Interpretation ist jedoch nicht korrekt. Die Erklärung dafür liefern die traditionellen Kantillationszeichen. Diese speziellen Noten ergänzten die Buchstaben und die Vokalzeichen im Tanach und in mittelalterlichen Handschriften der Mischna, und teilten jeden Schriftvers in zwei Hälften. Die Autoren wollten die Hauptpause im Vers vor der Wendung »400 Jahre« einfügen. Dementsprechend plazierten sie das Zeichen »Etnachta« unter dem Wort »sie«, das den Worten »400 Jahre« direkt vorausgeht.
Die Gliederung des Verses nach den vorgegebenen Zeichen führt jedoch zu einer Unklarheit. Denn »400 Jahre« steht nun als eigene Einheit in der zweiten Vershälfte für sich und läßt das Vorhergehende in der Schwebe. Durch die merkwürdige Versteilung entsteht ein Ungleichgewicht. Die eine Vershälfte ist sehr lang (13 Wörter im Hebräischen), die andere sehr kurz (nur drei Wörter).
Ungeachtet der Probleme, die sich daraus für Inhalt und Kantillation ergeben, weisen uns die Urheber der Kantillationszeichen an, eine Pause vor dem letzten Versteil zu setzen. Damit wollten sie vermeiden, daß »und sie werden Sklaven sein, und man wird sie bedrücken 400 Jahre« als zusammenhängender Satz gelesen wird, da diese Lesart nicht den historischen Tatsachen entspräche. Nach den angegebenen Zeichen bezieht sich »400 Jahre« auf die Worte: »daß Fremdling sein wird dein Same in einem Land, das nicht das ihre«. Diese 400 Jahre haben aber nicht mit der ägyptischen Unterdrückung, sondern mit der Geburt Isaaks begonnen. Daher sollte der Text wie folgt gelesen werden: »... daß Fremdling sein wird dein Same in einem Land, das nicht das ihre ... für 400 Jahre«.
Nach dem Vers im 2. Buch Moses 12, 40 begann die Zählung 30 Jahre früher: zum Zeitpunkt des Bundesschlusses mit Abraham. Keine der beiden Angaben paßt jedoch zur Zahl der Jahre zwischen der Generation, in der Jakob und seine Söhne nach Ägypten zogen, bis zum Zeitpunkt ihres Auszugs. Die Gesamtzahl der Lebensjahre von Kohat (133), Amram (137) und Moses (80) beträgt 350 Jahre.
In der traditionellen Exegese wird argumentiert, daß sich der Ausdruck »in einem Land, das nicht das ihre« nicht nur auf Ägypten bezieht. Der Zeitraum, in dem sie Fremdlinge (Gerim) waren, beginnt demnach in der Zeit der Patriarchen, da das Wort »Ger« für sie verwendet wird.
Nach einem anderen Ansatz werden die Jahre zusammengezählt, die alle vier Generationen in Moses’ Familie in Ägypten verbracht haben: Levi (137), Kohat (133), Amram (137) und Aarons Alter zum Zeitpunkt des Auszugs (83). Die sechzig Jahre, die Levi und Kohat gelebt hatten, bevor sie nach Ägypten kamen, werden dann von der Gesamtlebenszeit der vier Generationen, 490 Jahre, abgezogen.
Um diese Rechnung mit der Zahl von 400 Jahren in Einklang zu bringen, bedient sich die Aggadah – die Sammlung rabbinischer, nichthalachischer Lehren und Geschichten – des Verfahrens der »Gematria«, der numerischen Wertung der Buchstaben. »Der Ewige berechnete das Ende (hebr. Ketz = 190)«. Anders gesagt: Er zog von den ursprünglichen 400 Jahren 190 Jahre (kof, tzadeh) ab, so daß die Israeliten nach 210 Jahren (210 = r-d-w, was bedeuten kann: »zogen hinunter«) befreit wurden.
Rabbiner Elijahu von Wilna (1720 bis 1797, Wilna Gaon) überbrückt die Zeit-
differenz mit der Annahme, daß die Israeliten schon vor der festgesetzten Zeit befreit wurden, weil ihr Sklavendasein unerträglich war. Dem fügt er eine Auslegung hinzu, die auf den Namen der Kantillationszeichen basiert. Der Vers: »und verbitterten ihnen das Leben durch harte Fron« (2. Buch Moses 1, 14) beinhaltet die Zeichen »Kadma ve-Azla« in den Worten »und verbitterten« sowie »Leben«. Die Israeliten gingen vorzeitig, weil die Ägypter »ihnen das Leben verbitterten«. Wer nun wissen möchte, wie viele Jahre früher sie das Land verließen, errechnet die Gematria, den Buchstabenwert, von Kadma ve-Azla – und kommt auf 190 Jahre.
Die Autorin unterrichtet an der Bar-Ilan-Universität in Ramat-Gan/Israel. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Fakultät für Jüdische Studien, www.biu.ac
Bo: 2. Buch Moses 10,1 - 13,16