von Carl Goerdeler
Ob sie 1908 oder 1909 auf die Welt kam, weiß sie nicht, selbst ihren Sohn Eduardo erkennt sie kaum mehr. Die Alzheimer-Krankheit hat das Gedächnis von Aracy Guímarães Rosa geborene Möbius de Carvalho verwüstet. Nur in seltenen Momenten leuchten ihre schwarze Augen auf, wenn sie auf einem Foto sich selbst und ihren berühmten Mann, den früh verstorbenen Schriftsteller João Guímarães Rosa erkennt. Ihr Vermächtnis liegt weit entfernt von ihrer Wohnung in der brasilianischen Millionenstadt São Paulo. Es liegt in Stein gemeißelt und tief verwurzelt unter einem Baum in der Allee der »Gerechten aus den Völkern« in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem. Aracy Möbius de Carvalho hat als junge Frau ihr Leben riskiert, um Juden zu retten.
Eine gescheiterte Ehe gerade hinter sich, trifft Aracy 1934 mit ihrem fünfjährigen Sohn in Hamburg ein. Ihre Eltern – die Mutter Deutsche, der Vater Brasilianier – hat sie in Südamerika zurückgelassen. Sie wohnt bei einer ledigen Tante und bewirbt sich um einen Posten im brasilianischen Generalkonsulat. Aracy wird angenommen, sie kommt in der Pass- und Visabteilung unter. Man schätzt ihren Fleiß, ihre Disziplin und ihre Sprachkenntnisse.
In Brasilien herrscht Getúlio Vargas, der mit der »Achse« sympathisiert, er liefert die Kommunistin Olga Benário Prestes an die Gestapo aus; in Rio de Janeiro fordert die Nationalversammlung, dass Brasilien »arisch« werden soll. In Nazi-Deutschland beginnt die Verfolgung der Juden. Der Geheime Runderlass 1127 weist die brasilianischen Botschaften weltweit an, keine Einreisevisa an Juden und andere »rassisch minderwertige« Menschen auszustellen. Aracy Möbius de Carvalho empfindet das als unmenschlich – und leistet stillen Widerstand: Sie besorgt den Verfolgten falsche Ausreisepapiere.
Um die Zeit der Pogrome im November 1938 stößt João Guímarães Rosa als Vizekonsul hinzu. Der junge polyglotte Arzt aus Brasilien, der, gerade erst geschieden, sein literarisches Talent entdeckt und die Vorbereitung zum Diplomatischen Dienst mit höchster Auszeichnung bestanden hat, ist von der faschistischen Agitation ebenso angewidert wie seine junge Kollegin Aracy, in die er sich verliebt.
Aracy besorgt sich mit Hilfe eines unbekannten Deutschen im Hamburger Einwohnermeldeamt Pässe ohne das berüchtigte rote »J«, sie fälscht Bescheinigungen und Papiere, stellt Hunderten von Verzweifelten Einreisedokumente aus, die sie vom unwissenden Generalkonsul beiläufig unterzeichnen lässt. Sein Stellvertreter João Guímarães Rosa weiß davon und lässt sie gewähren, selbst als Aracy es so weit treibt, die Flüchtlinge im Diplomatenwagen bis ans Schiff und an Bord zu begleiten.
Langsam bekommt die Gestapo Wind davon, doch Aracy streitet mutig alles ab. Bevor die Nazis zuschnappen können, bricht der Krieg aus, und 1942 wechselt Brasilien die Fronten. Die brasilianischen Diplomaten, darunter João und Aracy, werden in Baden-Baden interniert und später gegen internierte deutsche Diplomaten in Brasilien ausgetauscht.
Zurück in Südamerika heiraten Aracy Möbius de Carvalho und João Guímarães Rosa. Aracy widmet sich ganz der Arbeit ihres Mannes, der eine steile Doppelkarriere hinlegt: als Diplomat wie als Schriftsteller. Seine großen Werke Sagarana, Grande Sertão:Veredas, Mein Onkel der Jaguar werden durch die Übersetzung von Curt Meyer-Clason auch in Deutschland bekannt. Dass Aracy nicht nur seine Manuskripte tippte, sondern mit ihm die Texte »durchknetete«, ist verbürgt. João Guímarães Rosa erlag mit knapp 59 Jahren einem Herzinfarkt.
Aracy hat aus ihrer geraden Haltung und ihrem Mut gegen die Unmenschlichkeit nie viel Aufhebens gemacht. Sie blieb stets im Schatten ihres berühmten Mannes – und im Schatten der Geschichte.
Die heute 100-jährige Maria Margareth Bertel Levy in São Paulo ist wahrscheinlich die letzte noch Lebende, die ihre Rettung Aracy verdankt. »Sie hat mich und meinen Mann persönlich zum Schiff begleitet und unsere letzten Preziosen hinausgeschmuggelt«, sagt Levy, deren Angehörige allesamt im Holocaust ermordet wurden. In der jüdischen Gemeinde von São Paulo trägt Aracy den Beinamen »Der Engel von Hamburg«.