von Gerd Felder
Warendorf im Münsterland, tiefstes und urkatholisches Westfalen. Als Zentrum der Pferdezucht ist die 39.000 Einwohner zählende Kreisstadt weltweit bekannt. Das Deutsche Olympia-Komitee für Reiterei hat hier seinen Sitz. Der Marktplatz mit den alten stolzen Bürgerhäusern hat sein charakteristisches Bild über Kriege hinweg unverfälscht bewahrt. Die vielen Gäßchen und liebevoll gepflegten Fachwerkhäuser lassen die Handschrift der Bauherren und Architekten längst vergangener Jahrhunderte erkennen.
Am 31. Dezember 1937 wurde Paul Spiegel in der beschaulichen Stadt an der Ems geboren. Nach seiner Rückkehr aus Belgien, wo er die Schoa überlebte, verbrachte er hier seine Jugend, besuchte die Grundschule und das traditionsreiche Gymnasium Laurentianum. 1958 verließ Paul Spiegel die Stadt und zog nach Düsseldorf. Doch er regelmäßig kam er zu Besuch nach Warendorf. Vor fünf Jahren wurde er Ehrenbürger der Stadt, vor zwei Jahren ehrte ihn der Heimatverein mit der der Zuhorn-Plakette. Unvergessen ist auch Spiegels Auftritt bei der 800-Jahr-Feier der Stadt.
Kein Zweifel: Paul Spiegel fühlte sich in Warendorf zu Hause. Er genoß die Sympathien der Bürger der Stadt und mußte bei seinen Besuchen immer wieder Autogramme geben. Der erste Gang in Warendorf führte den Zentralratspräsidenten immer zum jüdischen Friedhof, zu den Gräbern seiner Eltern. Die Straße, die zum Friedhof führt, ist seit 1999 nach Paul Spiegels Vater benannt. »So einfach kann ein Mahnmal sein«, soll Paul Spiegel dazu gesagt haben. Wer das Straßenschild sehe, der frage nach den Gründen, nach dem Warum.
Hugo Spiegel, ein selbständiger Viehhändler, wurde in der Pogromnacht 1938 von NS-Schergen aus der Wohnung geholt und krankenhausreif geschlagen. Nach einer Odyssee durch schlimmste Konzentrationslager wurde er 1945 in Dachau von den Amerikanern befreit. Was seinem Vater nach all dem Erlebten die Kraft gab, nach Warendorf zurückzukehren, blieb Paul Spiegel immer »ein unlösbares Rätsel von symbolischer Kraft«, wie er häufiger betonte. In einem Gespräch mit Schülern vor einigen Jahren soll er gesagt haben: »Mein Vater war Warendorfer und fühlte sich hier wohl«.
Im Rathaus der Stadt herrscht tiefe Betroffenheit über den Tod des berühmten Sohnes der Stadt. »Paul Spiegel war mit dem offiziellen Warendorf sehr verbunden«, betont Bürgermeister Jochen Walter. Er habe stets den Kontakt gehalten. Warendorf sei stolz auf Paul Spiegel und schmücke sich auch mit ihm. »Was er für Moralität und Versöhnung, gegen Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit getan hat, das wirkt in starkem Maße in seine Heimatstadt zurück.« Der Bürgermeister hofft, daß Spiegels beeindruckende Botschaften in seiner Geburtsstadt aufmerksam wahrgenommen worden seien. Mehrfach begegnete Bürgermeister Walter dem Zentralratspräsidenten bei Gesprächen über die Umgestaltung des jüdischen Friedhofs. »Da gab es manches, was er kritisierte und geändert haben wollte«, sagt Walter. »Der Gedenkstein am Eingang, auf dessen Inschrift es heißt, daß die Juden während des Dritten Reiches ›umgekommen‹ seien, war ihm ein Ärgernis. In intensiven Gesprächen haben wir aber dann ein Konzept entwickelt, das alle Beteiligten zufriedenstellt. Wir werden es jetzt in seinem Sinne umsetzen.« Am 24. Mai soll der Friedhof wie vorgesehen eingeweiht und seiner Bestimmung übergeben werden, leider ohne Paul Spiegel.
Als Paul Spiegel als Siebenjähriger nach der Schoa zurück nach Warendorf kam, wurde er dort, nach eigener Einschätzung, gut wieder aufgenommen. Einer, der sich daran erinnert, ist Karl Brinkmann. »Der Paul, das war ein angenehmer Zeitgenosse. Wir haben viel Spaß miteinander gehabt. Wir haben häufig zusammen Karten gespielt und die Schützenfeste in den Nachbarorten besucht, nicht zuletzt der hübschen Mädchen wegen.« Paul habe es im heimischen Schützenverein immerhin zum Ehrengardisten gebracht, sein Vater Hugo sei 1962 sogar Schützenkönig bei den Dreibrückenschützen gewesen und Ehrensenator bei zwei Karnevalsgesellschaften. »Seine Eltern waren nette Leute und in Warendorf sehr beliebt«, erzählt Brinkmann. Über die Zeit in den Konzentrationslagern aber habe man sich nie unterhalten.
Ein weiterer Warendorfer Freund Paul Spiegels ist Karl Goebeler. Von der Sexta bis zur Quarta gingen sie zusammen aufs Gymnasium. »Als Paul aus Belgien zurückkam, sprach er nur wenig Deutsch, fast nur Französisch. Das hat sich dann aber bald geändert«, erinnert sich Goebeler. »Paul selbst hat immer wieder betont, daß er eine schöne Kindheit in Warendorf hatte. Manchmal hat er auch den katholischen Religionsunterricht besucht.« Im Schulorchester habe Paul Spiegel Geige gespielt. »Doch ein Menuhin wurde nicht aus ihm – sehr zum Leidwesen seiner Mutter«, erzählt Goebeler. Auch auf einem anderen Gebiet seien Paul Spiegels Fähigkeiten durchaus begrenzt gewesen. »Ich habe versucht, ihm das Fußballspielen beizubringen«, erzählt Goebeler. »Aber der Erfolg blieb mäßig, obwohl er beim SV Warendorf in der A-Jugend spielte. Er hatte eben die falschen Füße.« Gut erinnert sich Goebeler an die letzte Begegnung mit seinem Freund: Als sie sich herzlich umarmten, seien die Bodyguards sofort auf sie zugestürzt.
Vom Tod Paul Spiegels haben die beiden Freunde aus den Nachrichten im Fernsehen erfahren. »Das war ein Schock«, schildert Karl Brinkmann seine erste Reaktion. »Paul ist einfach zu früh gestorben«, sagt Karl Goebeler. In einem Interview, das Schüler des Warendorfer Gymnasiums Laurentianum vor einigen Jahren mit Paul Spiegel führten, soll er gesagt haben: »Ich glaube, ich hatte noch nie so viele Freunde wie damals in Warendorf.«