von Julius H. Schoeps
Am Beginn dieses Jahrhunderts befindet sich der »Alte Kontinent« in einem Transformationsprozess, den Visionäre und intellektuelle Vordenker schon vor langer Zeit herbeigesehnt haben: Die meisten Länder, die sich geografisch und kulturell von jeher in Europa verankert sehen, sind damit beschäftigt, an einer umfassenden politischen und wirtschaftlichen Einheit zu arbeiten.
Das alles wirkt wie ein lichter Kontrast zum vergangenen Jahrhundert, in dem der Kontinent Hauptkampfplatz zweier verheerender Weltkriege war und darüber hinaus Nationalismus, Rassismus, Faschismus, Staatskommunismus und Antisemitismus die Ideale einer humanen Zivilisation pervertierten. Das Projekt der Moder- ne schien endgültig aus dem Ruder zu laufen. Partikulare Herrschaftsinteressen, hartnäckiger christlicher Antijudaismus und ein einsetzender exterminatorischer Rasseantisemitismus haben Europas Juden bis an den Rand der vollständigen Vernichtung geführt. Vor einigen Jahrzehnten glaubte man noch, dass das jüdische Leben in Europa ein für alle Mal vorbei und eine Angelegenheit der Geschichte sei.
Heute bilden die rund anderthalb bis zwei Millionen Juden im gemeinsamen Haus von bald 500 Millionen EU-Bürgern zwar kein Schwergewicht. Sie bleiben zahlenmäßig hinter anderen Minderheiten deutlich zurück. Dennoch lässt sich sagen, dass sie durchaus Beiträge und Impulse liefern: in Wissenschaft und Wirtschaft, in Kunst und Politik, in den neuen sozialen Bewegungen sowie in den öffentlichen Diskursen der verschiedenen Länder. Für die ethnischen und religiösen Minderheiten in Europa gab es nie zuvor bessere rechtliche und strukturelle Bedingungen, am Leben der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft teilzunehmen. Sie sind in der Lage, sich in eigenen Netzwerken zu organisieren und durch den Bau von Kulturzentren, Gotteshäusern und Bildungseinrichtungen ihre Herkunftskultur zu bewahren. Das gilt insbesondere für die jü- dische Minderheit, die selbstbewusster auftritt und den Anspruch erhebt, im sich formierenden Europa eine Rolle zu spielen.
Doch steht die jüdische Gemeinschaft in Europa – wie es die französische Politologin Diana Pinto zur Diskussion gestellt hat – am Beginn einer »jüdischen Renaissance«? Diese These wird seit einigen Jahren in immer neuen Varianten debattiert. Sieht man sich die Wirklichkeit an, sind allerdings Zweifel angebracht.
Wenn wir das europäische Judentum in seiner heutigen Komplexität betrachten wollen, dann wird es keineswegs nur um einen theoretischen Diskurs zum Thema »Jewish Revival« oder »Neue Jüdische Identität« gehen können. Denn sollte es in Zukunft als mehr oder weniger eigenständiger Akteur auftreten wollen – und sich eben nicht nur auf Erinnerungsarbeit, den Kampf gegen Antisemitismus und die Solidarität mit Israel konzentrieren –, dann ergeben sich Fragen von einiger Tragweite:
Wie wird sich das europäische Judentum in den Aufbau einer Zivilgesellschaft einbringen können, in der Mehrheiten wie Minderheiten erst noch den gemeinsamen Grundwerte-Konsens finden müssen? Ist es an ihm, den Kampf gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Intoleranz zu übernehmen, oder ist das nicht eine Verpflichtung der jeweiligen nichtjüdischen Umgebungsgesellschaften? Und es stellt sich die Frage, wo sich die Interessen der europäischen Juden mit denen anderer ethnischer und religiöser Minderheiten treffen, um gegebenenfalls den »Schulterschluss« gegenüber einer im Einzelfall in- toleranten oder restriktiven Mehrheitsgesellschaft zu praktizieren.
Innerjüdisch aber dürfte der Prozess der europäisch-jüdischen Selbstfindung – mehr als 60 Jahre nach der Schoa – intensiv weitergehen, und dies wird voraussichtlich alles andere als problemlos ablaufen. Sind die Juden ein europäisches Volk? Oder haben wir es mit einer sich als transnational begreifenden Gemeinschaft zu tun, die sich aber nur noch bedingt religiös definiert? Vom Erfolg oder Misserfolg der versuchten Eigendefinition wird es vor allem abhängen, ob sich ein drittes zeitgenössisches Judentum neben Israel und der amerikanisch-jüdischen Community entwickeln kann.
Existiert es also, ein neues europäisches Judentum? Die Antwort ist ein vorsichtiges »Ja«. Ob sich daraus jedoch so etwas wie ein neues jüdisches Zentrum entwickeln kann, steht 2009 noch in Europas Sternen.
Der Autor ist Historiker und Direktor des Moses Mendelssohn Zentrums für europäisch-jüdische Studien an der Uni Potsdam.