von Eldad Beck
Gott, die Natur und die Geschichte wollten, dass ich eine große Familie habe. Von mütterlicher Seite. Fast die gesamte andere Seite wurde von den Nazis vernichtet. Als Kind spürte ich aber kaum das Fehlen dieses Teils, da ich sowieso genug Tanten, Cousins und andere Sorten von Verwandten um mich hatte. Es gab so viele Verwandte, dass ich bis heute nicht genau weiß, wie sie alle heißen und welche Verbindung zwischen uns besteht. Manche mochte ich überhaupt nicht. Aber: Familie bleibt Familie. Man kann sich Verwandte nicht aussuchen.
Irgendwann reichte mir meine große Familie: die Hochzeiten, die Barmizwas, die Erbstreitigkeiten, die unendlichen politischen Diskussionen. Ich wollte meine Ruhe haben und ging ins Ausland. Aber durch meine Tätigkeit als Journalist fand ich immer den Weg zur größe- ren »Familie«: zu den jüdischen Gemeinden. In Frankreich, Großbritannien, den USA, Österreich, sogar in Tunesien und Marokko fand ich immer offene Türen. Bis ich nach Deutschland kam.
Es war Frühling 2002. Wegen der Intifada und der Möllemann/Friedman-Affäre hatte ich sofort viel zu tun. Eines Tages wollte ich über eine Rede des damaligen Bundesaußenministers Joschka Fischer vor Politprominenz und führenden Vertretern der jüdischen Gemeinden berichten. Der Abend verlief anders, als ich ihn geplant hatte: Meine deutschen Kollegen fanden Platz im großen Saal eines Luxushotels. Aber der einzige israelische Journalist musste draußen bleiben. Wen interessiert schon die israelische Presse?! In den folgenden Wochen versuchte ich verzweifelt, Interviews mit hochrangigen Vertretern der jüdischen Gemeinschaft über den steigenden Antisemitismus und die wachsende Israelfeindschaft in Deutschland zu führen. Vergeblich. Dann fiel der Groschen: Hier ist Israel bei bestimmten Teilen der jüdischen Gemeinde wichtig, solange man sich in Deutschland mit Israel wichtig machen kann. Sonst ist vielen jede Verbindung zu Israel und zu den Israelis im Grunde herzlich wurscht. Auch Juden, die in Deutschland Israel so gern kritisieren, machen es nicht, um Israel vor sich selbst »zu retten« oder den Palästinensern eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Nein, manche schimpfen über Israel, um sich einen Platz in der deutschen Gesellschaft zu sichern. Sie wollen gefallen. Denn nur wenn Israel »böse« ist, können bei vielen in Europa und Deutschland bestimmte Juden »gut« sein.
Es mag stimmen, dass heutzutage eine »Familienbeziehung« mit Israel nicht unbedingt ein Grund ist, stolz zu sein. In Zeiten, in denen gegen fast die gesamte Führung dieses Landes wegen verschiedenster Vorwürfe – Korruption, Untreue, Vergewaltigung, fehlendes Kriegsmanagement –ermittelt wird, könnte man sich fragen, ob man sich zu so einer Beziehung überhaupt bekennen sollte. Anderseits: Sollte ich, Israeli und Jude, stolz auf die jüdischen Gemeinden hierzulande sein mit allen ihren beschämenden inneren Kämpfen? Ist der Bruderkrieg innerhalb des World Jewish Congress eine Alternative zu dem, was ich bei mir zu Hause sehe? 62 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, 59 Jahre nach der Gründung des Staates Israel haben wir Israelis und Juden ein großes Problem mit uns selbst und miteinander. Wir wissen zwar, woher wir kommen, haben aber keine Ahnung, wohin wir wollen. Was tun?
Vielen Juden bereitet die Verwandtschaft mit Israel Unwohlsein, weil sie in der Mehrheitsgesellschaft als Israelis gelten. Sie sind es aber oft nicht. Selbst wenn sie wegen des Antisemitismus Europa verlassen, gehen sie eher nach Amerika und Kanada und nicht unbedingt nach Israel. Das verstehen die meisten Israelis nicht. Für viele hat gerade die Erfahrung der vergangenen Jahre gezeigt, dass alle Juden nach Israel kommen müssten, weil man nur dort ohne Antisemitismus oder Angst vor Assimilation leben kann. Selbst ein unsicheres Israel ist immer noch eine Sicherheitsgarantie für diejenigen, die nicht dort leben. Und nur eine starke Diaspora kann eine Garantie für die Weiterexistenz Israels sein.
Israel braucht die Diaspora genauso wie die Diaspora Israel braucht. Statt zu versuchen, Juden nach Israel zu bringen, sollte Israel die jüdische Identität und Pluralität in der Diaspora fördern. Statt Israel den Rücken zu kehren, sollen sich viele »kritische« Juden aus der Diaspora einmal vorstellen, wie das Leben in Israel wirklich ist. Auch die Israelis, nicht nur die Palästinenser, brauchen Verständnis und Solidarität. Sie haben ein Recht darauf. Israel kann schon eine unbequeme Verwandtschaft sein, genauso wie die Juden in der Diaspora. Aber Familie bleibt Familie.
Der Autor (41) ist seit fünf Jahren Deutschland-Korrespondent der israelischen Zeitung Yediot Achronot.