Samuel Klein

Der billige Jakob

von Carl D. Goerdeler

Gleiwitz, Sommer 1945. Russische Truppen haben die schlesische Grenzstadt besetzt; die Häuser sind ausgebombt und abgebrannt. Von hier aus hatte Hitler sechs Jahre zuvor den Weltkrieg mit einem Angriff auf Polen vom Zaun gebrochen. Jetzt ist die Stadt ein Flüchtlingslager; Deutsche packen ihren Krempel auf der Flucht nach Westen, Polen aus dem Osten rücken nach, ausgemergelte KZ-Häftlinge, Kinderhorden und verzweifelte Gestalten irren durch die Trümmerlandschaft auf der Suche nach einem Stück Brot und nach verschollenen Angehörigen. Unter ihnen ist Samuel Klein, der polnische Jude aus Zaklikov, 22 Jahre ist er alt.
»Schmile« war in dem Dorf bei Lublin mit fünf Geschwistern aufgewachsen; sein Vater Sucher war ein Tischler, der den Schabbat heiligte. Und er, der zweitälteste Sohn, half nach der Schule, Särge zu zimmern und Balken zu hobeln. Sie waren die Juden im Dorf, und sie waren an allem Elend der anderen schuld. Es war ein Hundeleben, aber sie hatten zu essen. Bis Zaklikow und Lipa und all die anderen Weiler im weiten Polen nur noch Streitpunkte auf der Landkarte von Hitler und Stalin waren. Die Hoffnung, unter den deutschen Besatzern werde sich alles zum Besseren wenden, schlug in Entsetzen um. An einem Schabbat im Oktober 1942 trieb die SS die jüdischen Bürger in der Synagoge von Zaklikov zusammen – die Nachbarn hatten die Fenster geschlossen – und »selektierten« ihre Opfer. Frauen und Kinder nach rechts, arbeitsfähige Männer nach links. Samuel Klein sah seine Mutter Szeva (»Eva«) und die zwei jüngsten Geschwister nie wieder; man hat sie in Treblinka vergast.
Samuel und sein Vater wurden in Viehwaggons verladen und als Arbeitssklaven in der Industrie in Oberschlesien »verheizt«. Sie mussten mit 190 Kalorien am Tag überleben, ihre Bewacher, die deutschen Soldaten, hatten Verpflegung mit 2.300 Kalorien. 3,4 Millionen polnischer Juden haben die Nazis ermordet, 100.000 entgingen der Vernich- tung, darunter Samuel Klein. Die Kleins hatten immer schwer malochen müssen – vielleicht hat sie das vor dem Tod gerettet. Sie überlebten die Knochenmühle – Sucher zum Schluss in Dachau, Samuel, weil er aus dem Treck der Bewacher türmte, die das KZ vor den nahenden russischen Truppen räumten. Juli 1944: endlich frei und zwischen den Fronten. Ein Jahr lang schlägt sich Samuel durch die Wälder Ostpolens, kehrt ins heimatliche Zaklikov zurück: die Häuser ohne Dach – und darin neue Bewohner.
Samuel Klein geht nach Westen. In Gleiwitz, 1945, gibt es ein Wiedersehen; wie durch ein Wunder haben zwei Schwestern und ein Bruder bei den Russen überlebt. Der Krieg ist zu Ende, aber der Hunger nicht. Samuel schlägt sich auf dem Schwarzmarkt durch: Wodka für die Russen, Papyrossi für die Polen. Bis er den Tipp bekommt, im Keller einer zerbombten Zuckermühle lägen noch ein paar hundert Säcke. Samuel besorgt sich falsche KGB-Papiere, besticht den russischen Kommandan- ten mit einer Kiste Wodka, bekommt von ihm sogar einen Chevrolet-LKW (eine Gabe der amerikanischen Waffenbrüder), fährt zur Fabrikruine und animiert die Soldaten dort mit weiteren Flaschen Wodka, die Zuckersäcke zu verladen. Dann klappert er die Märkte in Oberschlesien ab und verkauft die Beute sackweise. Das Husarenstück des polnischen Juden, der sich in die Höhle des Löwen traute, gibt Samuel Klein das nötige Startkapital, im größeren Stil auf den Schwarzmärkten mitzumischen. Aber eine sichere Zukunftsperspektive ist das nicht: Im sowjetischen Machtbereich sind Geschäfte auf eigene Rechnung nicht gern gesehen, und die Erinnerung an das Leben im polnischen Dorf, an die Pogrome, den Hass und den Neid, bewegen ihn, nach Westen zu streben, zwar in das verhasste Deutschland, aber unter den Schirm der kapitalistischen Alliierten.
Bis zur Währungsreform sieht man Samuel Klein als fliegenden Händler in »Trizonesien«, der Aspirin gegen Felle vertickt, Zigarettenstangen gegen Familiensilber, Bücher gegen Weinbrand. Als er am Berliner Tauentzien die Schuhverkäuferin Ana Wangerin aus Stettin kennenlernt, wird Samuel sesshaft; sie heiraten, und bald darauf kommt Sohn Michael auf die Welt. Mit importierten Konserven aus Italien eröffnen Ana und Samuel ihren ersten Krämerladen, sogar einen alten Ford leisten sie sich. Aber hat das alles Zukunft auf der Insel Westberlin, mitten im »roten Meer«? Die Kleins und ihre Mischpoche sind mittlerweile auf der ganzen Welt verstreut, Vater Sucher mit Tochter Esther in Israel, Bruder Sloma und Schwester Césia in Amerika und Kanada. Sollten sie nicht auch auswandern, das zerbombte Europa und die traumatische Vergangenheit hinter sich lassen? Im Dezember 1951 sitzen Ana, Samuel und das Baby Michael am Kai von Genua, 7.000 Dollar im Jackenfutter eingenäht. Die »Provence« wird sie mitnehmen nach Buenos Aires, von dort soll es zu einem entfernten Verwandten nach La Paz, Bolivien weitergehen. Samuel könnte dort als Tischler arbeiten, das hat er ja gelernt.
Nach wenigen Monaten wird den Flüchtlingen klar: In Bolivien liegt ihre Zukunft nicht. Samuel Klein fliegt (nicht ohne vorher billig Gold zu hamstern, um es in Brasilien teuer zu verkaufen) nach Rio de Janeiro zu Tante Hinda und schaut sich um. Aber das tropisch-schwüle Rio ist es auch nicht: In São Paulo brummt der Bär, sagen alle, die es wissen müssen. Tatsächlich: Der Ameisenhaufen São Paulo, diese Stadt, die täglich in die Höhe und Breite wächst, in der die Menschen im Laufen essen, weil sie keine Zeit für Müßiggang haben – diese Metropole hat es Samuel Klein angetan. Hier will er Geschäfte machen. Nur wie, ohne Geld?
In São Caetano do Sul, eine halbe Eisenbahnstunde vom Zentrum entfernt, ist die Luft schwarz von den Essen und Schmieden. Rund um die neuen Autofabriken schießen die Reihenhäuser und Nissenhütten der Fabrikarbeiter wie Pilze aus dem Boden. Hier fängt Samuel ganz unten an: als »Maskate«, als Straßenhändler, der zu Fuß oder mit einem klapprigen Pferdekarren seine Haushaltswaren feilbietet, der die Hütten und Häuser aufsucht, um den Frauen in radebrechendem Portugiesisch Weißware aufzuquatschen. Zum Glück gibt es andere aus der jüdischen Gemeinde, die ihm unter die Arme greifen. So bekommt er die Kundenkartei vom alten José Nulman, den Karren und die Mähre dazu. Mit 200 »Klienten« fängt Samuel an – über jeden von ihnen führt er gewissenhaft Buch. Denn natürlich, keiner in São Caetano do Sul zahlt bar auf die Hand – und so ist es bis heute in ganz Brasilien geblieben.
Aber bei Samuel bekommen selbst die Ärmsten Kredit. »Für 100 Real einkaufen, für 200 verkaufen«, und sei es in 30 Raten. Mit diesem Credo schlägt Samuel sich durch. Sein Geschäft ist die Straße. Er muss mit den Leuten reden. »Aus einem guten Gespräch entspringt immer ein gutes Geschäft.« Er muss sie besuchen, er nimmt sie bei der Hand, er will geliebt werden von seinen Kunden – so wie er sie liebt und mit ihnen seinen Reibach macht. »Es gibt kein schlechtes Geschäft – es gibt nur schlechtes Management.« Samuel Klein rackert bis tief in die Nacht. Wenn es wie aus Kübeln gießt, sieht man ihn trotzdem durch die Pfützen waten, immer auf der Jagd nach einem Geschäft. »Der Rubel muss rollen.« Schnelligkeit im Umsatz, das hat er früh gelernt, spült Geld in die Kasse, das ganz schnell wieder in den Warenkreislauf fließen muss. Mit der ersten Ratenzahlung eines Kunden kauft er schon den nächsten Kühlschrank.
Es dauert keine zwei Jahre, da hat Samuel Klein seinen ersten motorisierten Lieferwagen, sein erstes, sein zweites, sein drittes Geschäft. Er nennt sie »Casas Bahia« – weil unter seiner Kundschaft sehr viele Arbeitsmigranten aus dem Nordosten Brasiliens sind, aus Bahia, Pernambuco und Ceará. Diese einfachen Leute zahlen ihre Schulden pünktlich. Niemals versucht Samuel Klein, seine Rechte mit den Paragrafen durchzusetzen. Wer klamm ist, dem hilft er sogar aus der Patsche. Lieber ein armer, aber guter Kunde als ein reicher, aber schlechter.
Die weitere Geschichte, die Geschichte der letzten 50 Jahre, ist eine Wachstumsstory sondergleichen. Samuel Klein ist schneller als die Konkurrenz, hat mehr Vertrauen in die Kundschaft, kauft billiger ein und macht bessere Gewinne. Er handelt getreu seiner Lehrjahre auf den Gassen von São Caetano do Sul (wo die Spitze seines Handelskonzerns bis heute sitzt): Man muss mit den Leuten reden – und man darf nicht zögerlich sein. Der Patriarch hat sich schweren Herzens (so schreibt sein Biograf Elias Awad) vor drei Jahren ganz aus dem Geschäft zurückgezogen – sein Familienclan, allen voran der älteste Sohn Michael, führt es weiter. Die Casas Bahia sind mittlerweile mit ihren 544 Filialen, einer Flotte von 3.000 LKW, einer Kundenkartei mit 26 Millionen Namen und derzeit 15 Millionen Käufern, einer eigenen Bank und einem Umsatz von 11,5 Milliarden Real (rund vier Milliarden Euro) der größte Einzelhandelskonzern Brasiliens und auf der Südhalbkugel der Erde. Im Grunde seines Herzens aber ist Samuel Klein, der sein Gelobtes Land in Brasilien fand, immer noch der billige Jakob, der kleine, bescheidene Schmile aus Zaklikov geblieben.

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