von Hans-Ulrich Dillmann
»Bingo«, ruft Lucien Dorra und strahlt in die Runde. Er gewinnt immer, sagt die ältere Dame neben ihm und legt freundschaftlich ihre Hand auf seinen Arm. Trotzdem verdreht sie leicht verärgert über sein Glück die Augen. Die Mehrzahl der Damen und Herren trinkt Tee, einige von ihnen – ihr Durchschnittsalter über 50 Jahre – haben sich schon Sekt genehmigt beim Freizeitnachmittag auf dem Motorschiff Astor. Draußen vor der Reling eröffnet sich der Blick auf St. John’s, die Hauptstadt der Karibikinsel Antigua.
»Bingo gehört dazu«, sagt Lucien Dorra. Doch diesmal scheint ihn die Glücksfee verlassen zu haben. Gerade erst ist er von einer Segeltour rund um St. Lucia zurückgekommen. »Herrlich, von See aus eine Insel zu betrachten, die Unterschiedlichkeiten wahrzunehmen«, schwärmt der 73jährige aus Endingen in der Nähe von Zürich. »Ich liebe das Meer.« Es ist nicht sein erster Trip über die Weltmeere.
Die Nazis haben ihm nichts anhaben können, bis nach Alexandria sind sie nicht gekommen. Der kleine glatzköpfige Mann mit dem schelmischen Lachen wurde 1933 in der ägyptischen Stadt geboren, aber danach hat ihn die Welt in ihren Bann gezogen. Syrien, Japan, Türkei, Palästina und dann wieder Ägypten sind die Stationen seiner Kindheit. Neben Englisch, Italienisch, Spanisch, Deutsch, Hebräisch, Griechisch, ägyptischem Arabisch »spreche ich auch ein wenig Japanisch«.
Aus Lucien Dorras Familie väterlicherseits kommen einige israelische Oberrabbiner. Seine Mutter hat sefardische Vorfahren, die vor der Vertreibung der Juden in Toledo lebten. Siebzehnjährig ging Lucien Dorra zur Ausbildung in die Schweiz, um nach dem Textilingenieurstudium in der Fabrik seines Vaters zu arbeiten. Dorra machte sich selbständig mit einer eigenen Fabrik, in der Fäden gesponnen und Stoffe gewebt wurden. »Dorratex, du wirst es nicht kennen, aber damals kannte man dieses Textil.« Sogar an Dior hat der junge Textilunternehmer verkauft. »In fünf Jahren zum Millionär. Gott sei Dank habe ich Geld nie sehr gern gehabt.«
Die nationalistische Bewegung des jungen ägyptischen Staatspräsidenten Gamal Abd el Nasser verunsichert Unternehmer wie Dorra. Da scheint es ratsam, wenigstens einen Teil seines Vermögens ins Ausland zu schaffen. Eine junge schöne Schweizerin bietet Hilfe an, betrügt ihn jedoch um eine Million US-Dollar und denunziert ihn: 13 Jahre Haft für Devisenschmuggel. Durch Beziehungen und finanzielle Nachhilfe kommt er frei, nachdem er sich zu einer Zusammenarbeit mit dem Geheimdienst bereit erklärt hat. Mit 28 Jahren haut Dorra aus seinem Geburtsland ab, zuvor hat er die Fabrik noch schnell verkauft. Er verreist in die Schweiz, um dort zu studieren. Das Studium finanziert er mit Immobiliengeschäften. 31jährig schreibt er sich zum Studium der Nuklearenergie ein, danach arbeitet er 30 Jahre lang in der Reaktorforschung. Seit 1973 besitzt er die Schweizer Staatsbürgerschaft.
»Es kostet einen Haufen Geld, wenn man die komplette Reise macht, aber was soll’s. Ich habe alles, was ich will, und ich werde bedient. Brauche nicht jedes Mal neu die Koffer auspacken. Gehe von Bord, schaue mir was an und komme in Ruhe wieder.« Viele Gleichaltrige finden sich an Bord, bei Ausflügen wird darüber informiert, ob Passagiere mit Gehhilfen daran teilnehmen können, denn manchmal geht es über Stock und Stein, wie bei der Tour durch den Regenwald von Tobago.
Ob Lucien Dorra gelegentlich jüdischen Karibikkreuzfahrern begegnet? »Selten, ab und an, die meisten kommen aus den USA und fahren auf englischsprachigen Schiffen.« Jüdisch zu sein, spielt keine Rolle, obwohl schon mal darüber geredet wird, wenn sich die Passagiere beim Dämmerschoppen auf der Schiffsterrasse treffen. Den Synagogenbauten der Karibik widmet Dorra seine Aufmerksamkeit nur selten. In die Synagoge seiner Heimatgemeinde Endingen geht er selten. »Nur, wenn sie mich zur Komplettierung des Minjans benötigen.«
Während die Besatzung das Schiff für das Auslaufen vorbereitet, schlummert der Weltenbummler schon längst. Noch vor dem Morgengrauen steht er auf – »das ist mein neuer Lebensrhythmus« – und komponiert in seiner Kajüte am Computer. Bereits mit sieben spielte er Klavier. Diese Klangwelt gibt ihm Ruhe, während die MS Astor sich Seemeile um Seemeile dem nächsten Hafen nähert. Die selbst gefundenen und miteinander verknüpften Töne lassen vor seinen Augen farbintensive Bilder entstehen, die dann mit Pinsel und Wasserfarben auf Aquarellblocks gebannt werden – Bilder, wie er sie jeden Tag vor seinen Augen hat: Sandstrände, Kokospalmen, klares Meerwasser in allen Türkistönen. Einige Bilder hat er den Passagieren der MS Astor gezeigt. »Manche habe ich sogar verkauft.«
Seine nächste Reise hat Lucien Dorra längst gebucht. Demnächst kreuzt er in den norwegischen Fjorden, und Ende Dezember wird er wieder an der Reling der MS Astor stehen, wenn zur nächsten Weltumrundung das Kommando heißt: »Leinen los«.