von Alexander S. Kekulé
Die Tora beantwortet die Frage nach den allerersten Dingen ebenso schlicht wie poetisch: »Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde.« Am Ende der ersten Arbeitswoche des Universums, die bekanntlich noch sechs Tage hatte, erblickte Adam das frisch erschaffene Licht der Welt. Bereits 5768 Jahre später – anno 2008 des Gregorianischen Kalenders – machen sich Adams Erben nun auf, die Schöpfungsgeschichte neu zu schreiben. Vergangenen Mittwoch ging am Genfer See der Teilchenbeschleuniger LHC (Large Hadron Collider) in Betrieb. Die größte und komplizierteste Maschine, die der Homo sapiens je gebaut hat, soll die Antwort auf die kühnste aller menschlichen Fragen geben: Warum existiert die Welt? (vgl. S. 15)
Das Bild, das sich der Mensch von den Urgründen seines Daseins zurechtgebastelt hat, ist keineswegs so schlicht und poetisch wie die heilige Schrift des Judentums. Ein unorthodoxer Jude namens Einstein machte um 1915 alles so kompliziert, dass seither kaum einer seiner Artgenossen in der Lage ist, sich die Schöpfung bildlich vorzustellen: Masse ist nur eine besonders dichte Ansammlung von Energie. Die Ausdehnung der Dinge und sogar der Ablauf der Zeit sind keine absoluten Größen, sondern hängen davon ab, wo sich der Beobachter in der »Raumzeit« gerade befindet. Gravitation (etwa die Schwerkraft, die uns auf der Erde hält) entsteht dadurch, dass jeder Körper die Raumzeit krümmt: Jede Sonne, jeder Planet und jede Fliege verbiegt also Zeit und Raum um sich herum.
Doch damit nicht genug der babylonischen Verwirrung. Die Allgemeine Relativitätstheorie erklärt zwar, wie das Universum aus dem Urknall vor knapp 14 Milliarden Jahren hervorgegangen ist. Was jedoch in der ersten millionstel Sekunde geschah, am allerersten Anfang der Welt, kann selbst Einsteins geniale Theorie nicht beschreiben. Zu diesem Zeitpunkt bestand das gesamte Universum aus einem unvorstellbar heißen und dichten Körper von der Größe einer Centmünze. Dieser erste Moment wäre Einsteins Formeln zufolge eine »Singularität«: ein Zustand, für den die Gesetze der Physik nicht gelten. Hatte also doch »der Alte«, wie Einstein den Schöpfer nannte, die Hände im Spiel?
Natürlich wollten die Physiker die Deutungshoheit über das, was »im Anfang« geschah, nicht den Religionen überlassen. In den 70er-Jahren entstand daher die »Stringtheorie«. Demnach bestehen die Bausteine der Atome aus eindimensionalen, schwingenden Saiten (strings). Das Bestechende an der Stringtheorie ist, dass sie vom Mikrokosmos der Atome bis zu den Dimensionen des Weltraums alle beobachtbaren Phänomene erklären kann: Urknall, Atome, Schwarze Löcher und selbst die Gravitation, bei der Einsteins Formeln versagen. Für ihre eigene, bislang hypothetische Schöpfungsgeschichte zahlen Adams Erben jedoch einen hohen Preis: Gemäß der Stringtheorie wäre das Universum mindestens zehndimensional, das heißt die vier Dimensionen der menschlichen Welt (oben-unten, vorne-hinten, links-rechts und die Zeit) wären nur ein winziger Ausschnitt der wirklichen Welt. Sind wir also dazu verdammt, in einer beschränkten Scheinwelt herumzulaufen?
Diese Frage soll der LHC beantworten. Die Supermaschine lässt Elementarteilchen mit ähnlich hohen Energien zusammenstoßen, wie sie kurz nach dem Urknall auftraten. Wenn dabei winzige Schwarze Löcher und andere merkwürdige Phänomene entstehen, ist die Stringtheorie bewiesen – und wir müssen auf ewig mit dem mulmigen Gefühl leben, dass nichts in der Welt so ist, wie es dem Menschen erscheint.
Ultrareligiöse Juden und Christen halten solche Experimente für Teufelszeug, weil sie die Schöpfungsgeschichte des ersten Buchs der Tora (Bereschit) anzweifelten. Orthodoxe Physiker wie Nathan Aviezer und Gerald Schroeder glauben dagegen, die Tora stehe gar nicht im Wider spruch zur modernen Physik. Schon das Wort Bereschit (Im Anfang) deute auf einen plötzlichen Beginn aus dem Nichts hin. »Es werde Licht!« könne nur den Urknall meinen. Sogar die Zeitangabe von sechs Tagen sei richtig, wenn man 14 Milliarden Jahre gemäß der Relativitätstheorie für einen Beobachter im Moment des Urknalls umrechne.
Sowohl das Entweder-Oder als auch die Gleichmacherei von Bereschit und Physik sind jedoch gefährlich, weil die Religion hier nur verlieren kann. Die Ultraorthodoxen riskieren, dass – nach ihrer Logik – der Beweis der Stringtheorie zugleich die Abwesenheit Gottes beweist. Und die zwanghaften Gleichmacher kommen in Erklärungsnot, wenn sich das physikalische Weltbild weiterentwickelt: Dem kosmologischen Standardmodell zufolge war die Welt im Moment des Urknalls beispielsweise kein tohu wa’wohu (wüst und leer, völliges Chaos), sondern maximal geordnet. Zudem war der Urknall wahrscheinlich gar nicht der Anfang, sondern nur ein Umkehrpunkt eines periodisch expandierenden und kollabierenden Universums; möglicherweise kollidierten auch zwei Paralleluniversen miteinander.
Gläubige Juden (und Christen) täten also gut daran, etwas von der modernen Physik zu lernen: Wenn es unsichtbare Raumdimensionen und parallele Universen gibt, können dann nicht mehrere Erklärungen der Entstehung der Welt richtig sein? An Klarheit und Poesie ist die Schöpfungsgeschichte der physikalischen Kosmologie jedenfalls überlegen. Und menschlicher ist sie allemal.
Der Autor ist Institutsdirektor und Professor für Medizinische Mikrobiologie in Halle.