USA

Der Aktivist

von Eva C. Schweitzer

»Der Schabbat,« erklärt Rabbiner Michael Lerner, »ist die allererste Errungenschaft der Arbeiterbewegung: Ein ganzer Tag frei, ohne Arbeit, ohne die Belastungen und die Sorgen des Alltags.« Das Interessanteste am Schabbat aber sei, daß er von den Juden erfunden worden sei, während sie in Ägypten versklavt waren. Die Juden seien damals das machtloseste aller Völker im Osten gewesen. Das aber, meint der Rabbiner, sollte auch der Linken in Amerika Hoffnung geben, die Lage verbessern zu können.
Rabbiner Lerner ist eine außergewöhnliche Erscheinung in Zeiten, in denen die jüdischen Organisationen der USA fest auf der Seite von George W. Bush stehen. Lerner ist der Gründer von Tikkun, dem Sammelbecken der spirituellen, religiösen Linken in den USA. Michael Paley von der New Yorker Columbia University nennt ihn sogar den »wichtigsten liberalen jüdischen Intellektuellen unserer Zeit.« Lerner ist allerdings schon lange politisch aktiv. Er hat bereits in den sechziger Jahren gegen den Vietnamkrieg gekämpft. Heute ist es sein Ziel, den evangelikalen Rechten, die großen Einfluß auf die US-Politik haben, etwas entgegenzusetzen.
Im Mai lud das Network of Spiritual Progressives, zu dem Tikkun gehört, zu einer Friedenskonferenz in die Unitarierkirche in Washington, DC. Mehr als tausend Aktivisten aus ganz Amerika kamen – Friedensbewegte, linke Demokraten, Umweltschützer, Indianer, die für Landrechte kämpfen, Buddhisten, Sufis und Kabbalisten. Die Stimmung war ein wenig wie in den sechziger Jahren. Der Rabbiner wollte im Namen der religösen Linken Flagge zeigen, aber auch Verbindungen erneuern, zum Bespiel diejenigen zu schwarzen Kirchen. Denn die sind in der Friedensbewegung der USA unterrepräsentiert, obwohl die große Mehrheit der Schwarzen den Krieg gegen den Irak ablehnt.
Lerners politisches Leben begann Mitte der sechziger Jahre, als der gebürtige New Yorker nach San Francisco zog, um an der Universität von Berkeley zu studieren. Das war die Zeit, als die ersten Proteste gegen den Krieg in Vietnam aufkamen. Bald wurde Lerner Sprecher der »Students for a Democratic Society« (SDS), die Organisation der Antikriegs-Aktivisten an den Universitäten. 1968 trat er eine Stelle als Philosophieprofessor in Seattle an und organisierte dort auch gleich eine Anti-Kriegsdemonstration. Die aber artete zur Straßenschlacht aus, und er wurde verhaftet. Mehrere Monate mußte er im Gefängnis von Terminal Island zubringen, und der damalige FBI-Chef J. Edgar Hoover nannte Lerner »einen der gefährlichsten Kriminellen in Amerika.« Schließlich stellte sich heraus, daß die Straßenschlacht in Seattle von FBI-Agenten angezettelt worden war, die die Studentenbewegung infiltriert hatten.
Danach beschäftigte sich Lerner mit Marx, Adorno und Horkheimer. Aber seit der Wahl von Ronald Reagan begann ihn die Frage umzutreiben, was so viele Menschen dazu bewegt, gegen ihre wirtschaftlichen Interessen für konservative Politiker zu stimmen. »Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß die säkulare Linke, die alles auf die Ökonomie reduziert, die reli- giösen, die spirituellen Bedürfnisse vieler Amerikaner nicht befriedigen kann,« sagt Lerner.
Er begann, jüdische Tradition und Mystizismus an verschiedenen Universitäten zu lehren. 1995 wurde er zum Rabbiner ordiniert, und ein Jahr später erhielt er die Gelegenheit, die Beit-Tikkun-Reformsynagoge in San Francisco mitzugründen und zu leiten. Gleichzeitig beunruhigte es ihn aber auch, daß die amerikanischen jüdischen Organisationen immer konservativer wurden, insbesondere seit der Intifada gegen Israel. Lerner, der schon lange für einen palästinensischen Staat eintritt, hat deshalb 1986 das Magazin Tikkun gegründet als Gegenöffentlichkeit zum konservativen Magazin Commentary, das das American Jewish Committee herausgibt. Und er sucht immer wieder das Gespräch mit Palästinensern.
Das macht Lerner zu einem umstrittenen Propheten im eigenen Land. Immerhin kritisierte der Rabbiner öffentlich die israelische Besatzung der Westbank. Auf rechten jüdischen Websites wird er deshalb oft genug als Verräter oder selbsthassender Jude genannt. Er erhielt sogar Morddrohungen.
Auf der anderen Seite geriet er schon mal mit der radikalen Linken aneinander. Von einer Anti-Irakkriegsdemo wurde er wieder ausgeladen, weil die Veranstalter ihm vorwarfen, zu israelfreundlich zu sein. So bleibt er zwischen allen Stühlen und unbeirrt. Die Juden, die so oft in ihrer Geschichte unterdrückt wurden, sind zur moralischen Sensibilität verpflichtet, meint Lerner. »Es gehört zum Judentum, Bedürftigen und den Unterdrückten zu helfen und zu sie verteidigen.«

Kultur

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