von Eva Pfister
Isaiah Berlin hat keine eigene Theorie entwickelt, keine Schule begründet – und war dennoch einer der wichtigsten Denker des 20. Jahrhunderts. In Philosophie, Politik und Geschichte ebenso zu Hause wie in der Literatur, erforschte Berlin die Geschichte des europäischen Denkens. Sein ureigenes Thema war dabei die Freiheit. Das hing mit seiner Biografie zusammen.
Isaiah Berlin wurde am 6. Juni 1909 im damals noch russischen Riga geboren. Im Ersten Weltkrieg wurde dort die Situation für die Juden prekär: Man beschuldigte sie der Kollaboration mit den Deutschen. Die Berlins zogen deswegen 1916 nach St. Petersburg. Dort kamen sie nach der Oktoberrevolution 1917 ins Visier der Bolschewiki. Nicht als Juden diesmal, sondern – die Eltern waren reiche Holzhändler – als Angehörige der »Bourgeoisie«. 1921 emigrierte die Familie deshalb nach England, das für Isaiah Berlin Heimat wurde und Inbegriff einer menschenfreundlichen Zivilgesellschaft. »Englisch sein« hieß für ihn »… dass Achtung vor anderen und das Ertragen von Dissens besser sind als Stolz und das Gefühl, eine nationale Sendung zu haben; dass Freiheit vielleicht unvereinbar ist mit zu großer Effizienz und besser als diese; dass Pluralismus und Ungeordnetheit besser sind als die rigorose Auferlegung allumfassender Systeme.«
In Oxford studierte Berlin Philosophie, und wurde dort – als nur einer von drei Juden – Dozent. Sein erstes größeres Projekt war ein Buch über Karl Marx. »Marx hatte ich bis dahin nie gelesen«, erinnerte er sich später. »Aber da mir schien, dass die Bedeutung des Marx’schen Denkens in der Zukunft immer mehr zunehmen würde, sah ich in der Aufforderung, ein Buch über ihn zu schreiben, einen nützlichen Anlass, mich mit seinen Ideen näher zu beschäftigen.«
Während des Zweiten Weltkriegs arbeitete Berlin in den USA für das britische Außenministerium und schickte Presseschauen über die britisch-amerikanischen Beziehungen nach London. Er war ein geschickter Netzwerker. Seine guten Beziehungen bis in die Spitzen der britischen Politik nutzte er, um Chaim Weizmann zu unterstützen, der als Präsident der Zionistischen Weltorganisation gegen die offizielle britische Politik für einen Judenstaat in Palästina kämpfte. Als Weizmann 1948 erster Präsident Israels wurde, bot er Berlin das Außenministerium an. Doch der blieb lieber in Oxford, wo er 1958 einen Lehrstuhl für Gesellschaftstheorie und Politikwissenschaft erhielt. Mit seinen Vorlesungen und Essays zur Ideengeschichte von Freiheit und Vernunft wurde er zu einem wichtigen Denker des Liberalismus. Auch außerhalb der akademischen Sphäre machte er sich durch regelmäßige Vorträge in der BBC einen Namen. Den Rationalismus der Aufklärung stellte Berlin ebenso infrage wie alle anderen universalistischen Theorien. Die erstrebenswerten Ziele der Menschheit seien nicht miteinander vereinbar: die totale Freiheit etwa nicht mit der totalen Gleichheit.
Berlin war ein strikter Gegner des sowjetischen Regimes, aber liebte die russische Sprache und Kultur seiner Kindheit und Jugend. Als erster Sekretär der britischen Botschaft in der UdSSR pflegte er Kontakte zu Schriftstellern wie Anna Achmatowa und Boris Pasternak. Sie waren für ihn lebende Beweise gegen die deterministische Theorie, nach der das Sein das Bewusstsein bestimme. Auch in seinen Einzelstudien zu Denkern wie Alexander Herzen, Montesquieu oder Herder interessierte ihn der Widerstand gegen geschlossene Systeme, denn: »Zeitlose Regeln, strikt befolgt, werden immer zu einem Blutbad führen.«
Hoch geehrt mit vielen Auszeichnungen starb Sir Isaiah Berlin – Queen Eliza-beth II. hatte ihn 1957 geadelt – im Alter von 88 Jahren am 5. November 1997 in Oxford.